Internationale Studie liefert neue Erklärung

Wie Lippen-Kiefer-Gaumenspalten entstehen

Bei der Entstehung einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte spielt das Gen TP63 eine entscheidendere Rolle als bislang angenommen. Zu diesem Schluss kommt eine gemeinsame Studie der Universitäten Bonn und Pennsylvania, die im Fachjournal „Science Advances“ erschienen ist.


Neue Studie zu Lippen-Kiefer-Gaumenspalten

Dr. Kerstin U. Ludwig (links) und Dr. Julia Welzenbach vom Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums Bonn haben möglicherweise eine neue Erklärung gefunden, warum Lippen-Kiefer-Gaumenspalten entstehen. (© Barbara Frommann/Uni Bonn)


Bereits seit längerem ist bekannt, dass Mutationen des Gens TP63 die besonders schwere syndromale Form der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte auslösen können. Betroffene Neugeborene kommen nicht nur mit der typischen Spaltbildung im Gesichtsbereich zur Welt, sondern auch mit Fehlbildungen der Extremitäten und Erkrankungen im Haut-, Haar- und Zahnbereich.

In den letzten beiden Jahren verdichteten sich jedoch die Hinweise darauf, dass der Einfluss des Gens TP63 größer ist als bislang angenommen. Forschern der Universitäten von Bonn und Pennsylvania gelang nun ein Durchbruch: Sie konnten in einer internationalen Studie erstmals nachweisen,dass TP63 auch maßgeblich an der Entstehung von isolierten Formen der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte beteiligt ist.

TP63 reguliert mehrere Tausend Stellen des Erbguts

Dazu „programmierten“ die US-Wissenschaftler menschliche Zellen in Kulturen zu Gesichtszellen. Dadurch konnte das Forscher-Team die Wirkung des Gens auf genau diesen Zelltyp untersuchen. Die Bonner Wissenschaftler verschnitten die gewonnenen Daten anschließend mit genetischen Daten großer Patientenkohorten. Dabei kam heraus: TP63 erhöht die Aktivität einer ganzen Reihe von Genen, die für die Entwicklung von isolierten Formen der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte verantwortlich sind.

Dem Gen gelingt das, indem es die Struktur des Chromatins verändert. So sorgt es dafür, dass bestimmte Stellen im Erbgut verstärkt abgelesen werden. „Nach heutigem Kenntnisstand reguliert TP63 auf diese Weise mehrere Tausend Stellen in unserem Erbgut“, erklärt Dr. Julia Welzenbach vom Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums Bonn. Darunter seien 17, von denen man aufgrund großer genetischer Studien bereits wusste, dass sie an der Entstehung von Spalten beteiligt sind. TP63 aktiviere aber auch eine Vielzahl weiterer Regionen, deren Beteiligung bislang noch unbekannt war.

Hoffnung auf bessere Prophylaxe bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalte

Die große Anzahl der von TP63 aktivierten Regionen zeige, wie wichtig das Gen beim Menschen sei, bestätigte Welzenbachs Kollegin Dr. Kerstin Ludwig. Wenn es mutiert und seine Funktion beeinträchtigt ist, betrifft dieser Defekt oft viele Organe zugleich. Dies erkläre Ludwig zufolge auch, warum die Forschung das Gen ursprünglich nur mit der syndromalen Form der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte assoziiert hat: Denn „bei der nicht-syndromalen Ausprägung ist seine Aktivität lediglich in sich entwickelnden Gesichtszellen gestört.“

Mit Hilfe des jetzt etablierten Zellsystems biete sich Wissenschaftlern ein Hilfsmittel, um die biologischen Ursachen der Lippen-Kiefer-Gaumenspalten im Detail analysieren zu können, ist sich Ludwig sicher. „Wir können beispielsweise die Auswirkung verschiedener Umweltfaktoren auf die TP63-Aktivität in Gesichtszellen testen“, so ihre Hoffnung. Langfristig ließen sich auf diese Weise möglicherweise bessere Empfehlungen für eine individuelle Prophylaxe ableiten – insbesondere in Familien mit einer genetischen Disposition für die Entwicklungsstörung.

Was ist die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte?

Mit einer Inzidenz von 1:700 gehören Lippen-Kiefer-Gaumenspalten zu den häufigsten angeborenen Fehlbildungen beim Menschen. Ursache ist eine Störung in den ersten Wochen der embryonalen Entwicklung, die Teile des Gesichts oder Gaumens nicht wie vorgesehen miteinander verwachsen lässt. Man unterscheidet verschiedene Spaltformen, je nachdem, wann die Entwicklungsstörung während der Emryogenese aufgetreten ist und wie schwerwiegend sie war. In besonders schweren Fällen sind neben der Deformation im Gesichtsbereich auch Extremitäten fehlgebildet und Haut, Haare und Zähne betroffen. Hier spricht man von syndromalen Lippen-Kiefer-Gaumenspalten. Im Unterschied dazu stehen die isolierten Formen der Störung, bei denen es nur zu einer Spaltbildung im primären und/oder sekundären Gaumen kommt.

Spezialisten für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten

Praktische Hilfe erhalten Betroffene an vielen deutschen Kliniken in spezialisierten Spaltzentren, wie etwa im Lippen-Kiefer-Gaumenspalten-Zentrum des Universitätsklinikums Bonn. Wo diese fehlen, etwa in Entwicklungsländern, verhelfen engagierte Experten LKG-Patienten und ihren Angehörigen zu einem normalen Alltagsleben.


Quelle:

Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Enrique Lin-Shiao, Yemin Lan, Julia Welzenbach, Katherine A. Alexander, Zhen Zhang, Michael Knapp, Elisabeth Mangold, Morgan Sammons, Kerstin U. Ludwig und Shelley L. Berger: p63 establishes epithelial enhancers at critical craniofacial development genes; Science Advances; DOI: 10.1126/sciadv.aaw0946