EU-Medizinprodukte-Verordnung (MDR)

Medizinprodukte: neue Verordnung, viele Fragen

Innerhalb der nächsten drei Jahre müssen mehrere Tausend Medizinprodukte im EU-Binnenmarkt, darunter mindestens 3000 Dentalprodukte, hinsichtlich ihrer technischen Dokumentation überprüft und ggf. neu bewertet werden. So will es die am 5. April 2017 vom Europäischen Parlament nach jahrelangem Ringen verabschiedete EU-Medizinprodukte-Verordnung (MDR). Der bürokratische Aufwand ist gigantisch, es drohen Engpässe bei den Benannten Stellen; viele Fragen sind offen.



Erreichen wollte man Regelungen, mit denen auch kleine und mittelständische Unternehmen gut leben könnten. Gelungen ist dies nicht. Der Unmut wächst. Allein die neu implementierten Klassifizierungsregeln sorgen für erheblichen Wirbel.

  • Regel 11: Software, die dazu bestimmt ist, Informationen zu liefern, die zu Entscheidungen für diagnostische oder therapeutische Zwecke herangezogen werden,
  • Regel 19: Alle Produkte, die Nanomaterial enthalten oder daraus bestehen und
  • Regel 21: Produkte, die aus Stoffen oder Kombinationen von Stoffen bestehen, die dazu bestimmt sind, durch eine Körperöffnung in den menschlichen Körper eingeführt oder auf die Haut aufgetragen zu werden, und die vom Körper aufgenommen oder lokal im Körper verteilt werden.

Die finale MDR verlangt zum Beispiel für alle Produkte, die Nanomaterialien enthalten, darunter etliche Dentalprodukte, eine Beurteilung des sogenannten Expositionsrisikos, also eine Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, dass der menschliche Körper den Stoffen ausgesetzt ist sowie der Folgen, die daraus entstehen könnten. Geprüft wird, in welche Risikoklasse die unterschiedlichen Medizinprodukte aufgrund ihres Potenzials der internen Exposition eingruppiert werden müssen, in Klasse IIa (vernachlässigbares Potenzial), in Klasse IIb (mittleres Potenzial) oder Klasse III (hohes Potenzial).

Was heißt das konkret?

„Darüber ‚streiten die Gelehrten‘“, weiß Kai Schwarz, verantwortlich für das Qualitätsmanagement bei der Dr. Jean Bausch GmbH & Co. KG, Köln. Denn „der Gesetzgeber hat darauf verzichtet, bewertbare Kriterien und messbare Grenzwerte für die Bewertung der Potenzialstufen zu definieren“. Auch die derzeit verfügbaren wissenschaftlichen Grundlagen helfen nicht weiter. „Hersteller oder Herstellerverbände sind genötigt, nach eigenen Bewertungsansätzen zu suchen“, so Schwarz.

Die ursprünglich von der EU-Kommission geplante „pauschale Höherstufung“ von Kompositen und Co. in die Klasse der Hochrisikoprodukte ist nun zwar entschärft und man hat mehr Spielraum. Doch Höherstufungen sind nicht vom Tisch, im Gegenteil. Es ist davon auszugehen, dass derzeitige Klasse-I-Produkte, die zum Beispiel Nanomaterial enthalten oder freisetzen könnten, wie etwa Okklusionspapier oder Abformmaterial, nun in die Klassen IIa oder IIb aufsteigen und nur noch in Zusammenarbeit mit einer Benannten Stelle CE-gekennzeichnet und in den Verkehr gebracht werden können. Das kostet Geld und zieht einen erheblich bürokratischen Aufwand nach sich.

Neben den steigenden Aufwänden für die Produktbewertungen und Zertifizierungen wachsen auch die Anforderungen an die Dokumentation und das regelmäßige Reporting der „Überwachung nach dem Inverkehrbringen“. Des Weiteren kommen neue Anforderungen zur „Unique Device Identification“ (UDI) hinzu, wie Schwarz anfügt.

„Ein Ziel des Gesetzgebers hat scheinbar darin bestanden, die Zahl der Klasse-I-Produkte, die die Hersteller in Eigenverantwortung in den Markt bringen dürfen, so weit wie möglich zu reduzieren“, kritisiert er. Die damit einhergehende Überwachung durch einzubeziehende Benannte Stellen wie beispielsweise TÜV und DEKRA werde jedoch nur dann zu einer Erhöhung der Sicherheit führen, wenn diese hinreichend Kapazitäten bereitstellen könnten.

Engpässe allerorten

Und genau daran hapert es zurzeit. Alle Akteure rechnen mit Engpässen, deren Auswirkungen sich derzeit kaum abschätzen lassen. Weil Medizintechnikhersteller zukünftig Ressourcen und Budgets zur Erfüllung der neuen Anforderungen und Formalien einrichten und vorhalten müssten, befürchten der Verband der Deutschen Dental-Industrie (VDDI), der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) und viele Hersteller, dass das eine oder andere Produkt zumindest vorübergehend nicht mehr zur Verfügung stehen könnte, dass es also zunächst vom Markt verschwindet und erst nach ein oder zwei Jahren, wenn es die Zertifizierung erhalten hat, wieder verfügbar ist. Selbst die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) möchte das nicht ausschließen.

Leitlinien fehlen

Hersteller und ihre Verbände stehen nun vor der Aufgabe, das umfangreiche und komplexe Regelwerk in ihr Alltagsgeschäft zu integrieren und selbst Bewertungsansätze dafür zu entwickeln. Denn auch die EU-Guidelines zum Thema Nanomaterial in Medizinprodukten helfen nicht weiter, so der BAH. Der Verband arbeitet mit Hochdruck an tragfähigen Lösungen, um den Dentalherstellern konkrete Hinweise zur Implementierung der MDR an die Hand geben zu können. „Wir hoffen auf eine hohe Akzeptanz bei Behörden und Benannten Stellen“, so die Referentin Medizinprodukterecht RAin Dr. Angela Graf.

Mehr Klarheit soll auch der unter Leitung des Bundesgesundheitsministeriums gegründete Nationale Arbeitskreis zur Implementierung (NAKI) der MDR bringen. In mehreren Arbeitsgruppen werden dort unter Beteiligung von Herstellern, Benannten Stellen, Bundesober- und Länderbehörden Strategien zur Umsetzung entwickelt. Eine Arbeitsgruppe zum Thema Klassifizierung befasst sich dort mit dem Thema Nanomaterialien.

Knappe Übergangsregelung

Die auf den ersten Blick großzügige Übergangsreglung von drei Jahren erscheint vor diesem Hintergrund ausgesprochen knapp bemessen. Schließlich müsse der gesamte Rechtsrahmen umgekrempelt werden; allein die MDR-Benennung der Benannten Stellen „dauert ihre Zeit“, konstatiert BAH-Referentin Graf. Erst sechs Monate nach Inkrafttreten der finalen MDR, also nach der Veröffentlichung im EU-Amtsblatt (bei Redaktionsschluss noch nicht erfolgt), können die Benannten Stellen einen Antrag auf Benennung nach MDR stellen. Nach zirka 18 weiteren Monaten dürften sie ihre neue Benennung erhalten haben. Das heißt, frühestens in zwei Jahren könnten sie in der Lage sein, die Produkte der Hersteller zu zertifizieren – also ein Jahr vor Ende der Übergangsreglung. „Die Chancen, die Übergangsregelung zu verlängern, sind derzeit ungewiss“, sagt Bernd Walker von der VITA Zahnfabrik, seit Jahren Vorsitzender der AG „Dental“ beim BAH.

Fazit

Die zusätzlichen bürokratischen Anforderungen aus der jetzt modifizierten „Nanomaterial-Regel“ bringen kein Plus an Sicherheit für Patienten und Zahnärzte. Hersteller werden wohl nicht umhin können, die in der Summe nicht unerheblichen Kosten an den Markt weiterzugeben. Es besteht sogar die Gefahr, dass sich die Vielfalt des Angebots an Dentalmaterialien für den Zahnarzt verringert und der Patient eventuell sogar eine schlechtere und teurere Versorgung bekommt, da womöglich kleinere Firmen mit speziellen, qualitativ sehr hochwertigen Produkten, aber nicht so großem Volumen, den Anforderungen nicht vollständig nachkommen können. Auch wenn nicht alle Neuerungen und auch nicht alle Verschärfungen bestehender regulatorischer Anforderungen per se abzulehnen sind: In der Branche rumort es jedenfalls.

Kai Schwarz
ist Qualitätsmanagementbeauftragter der Dr. Jean Bausch GmbH & Co. KG in Köln. Das Unternehmen hat sich auf Artikulations- und Okklusions-Prüfmittel spezialisiert, mit dem Ziel, eine möglichst naturgetreue Darstellung der Okklusionsverhältnisse auf den Kauflächen zu erreichen.

RAin Dr. Angela Graf
Referentin Medizinprodukterecht beim Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH), hofft auf eine hohe Akzeptanz bei Behörden und Benannten Stelle der vom Verband erarbeiteten Lösungen für Dentalherstellern.

Bernd Walker
von der VITA Zahnfabrik, seit Jahren Vorsitzender der AG „Dental“ beim BAH, setzt für plädiert unter anderem für längere Übergangsreglungen.