S3-Leitlinie

Abschied von einer Million „Risikopatienten“

Die erste S3-Leitlinie zur Therapie von Patienten unter oralen Antikoagulantien und Thrombozytenaggregationshemmern in der operativen Zahnmedizin und der MKG-Chirurgie zur präoperativen Vorbereitung, zu intraoperativen Kautelen und zur postoperativen Nachbetreuung liegt jetzt vor. Die Kernbotschaft des federführenden Leitlinienautors PD Dr. Dr. Peer W. Kämmerer lautet: Die Therapie kann fortgesetzt werden.


PD Dr. Peer W. Kämmerer

Federführender Leitlinienautor: PD Dr. Peer W. Kämmerer


Der federführende Autor dieser S3-Leitlinie, die durch die DGZMK und die DGMKG und in Zusammenarbeit mit 13 weiteren beteiligten Fachgesellschaften und Organisationen entstand, ist PD Dr. Dr. Peer W. Kämmerer von der Universitätsmedizin Mainz. Die Leitlinie legt evidenzbasierte, breit konsentierte konkrete Handlungsempfehlungen vor, die unerwünschte Blutungsereignisse vermeiden und Komplikationsraten bei dieser Patientengruppe verringern sollen.

Kernbotschaft dieser Leitlinie ist: Die Therapie für diese Patientengruppe kann trotz chirurgischer Eingriffe fortgesetzt werden. Wie relevant dieses Patientenklientel ist, zeigt die Tatsache, dass rund eine Million Menschen in Deutschland orale Antikoagulatien und Thrombozytenaggregationshemmer (TAH) einnehmen – zum überwiegenden Teil in Langzeitmedikation. Als orale Antikoagulantien werden die Substanzen Phenprocoumon und Warfarin sowie Dabigatran, Rivaroxaban, Apixaban und Edoxaban (alle NOAK) eingesetzt. Als orale TAH sind Acetylsalicylsäure, Thienopyridione (Clopidrogel und Prasugel) sowie P2Y12-Antagonisten (Ticagrelor) im Einsatz.

Herausforderungen für den behandelnden Zahnarzt

In der zahnärztlichen Chirurgie können insbesondere postoperative Nachblutungen ein ernst zu nehmendes Problem darstellen. Bei Patienten, die mit oralen Antikoagulatien und TAH behandelt werden, besteht eine weitgehende Unsicherheit bezüglich der Vorbereitung, der Durchführung sowie der Nachsorge im Rahmen zahnärztlich-chirurgischer Eingriffe. Die Einführung neuerer oraler Antikoagulantien und TAH impliziert weitere potenzielle Schwierigkeiten bei der zahnärztlich-chirurgischen Behandlung. Ein Absetzen, eine Veränderung oder eine Reduktion der Antikoagulation erhöhen das möglicherweise fatale Risiko thromboembolischer Ereignisse, andererseits seien letale Blutungsereignisse nach zahnärztlich-chirurgischen Eingriffen unter diesen Medikationen bisher nicht dokumentiert. Somit ist der Zahnarzt herausgefordert, die Patienten zum einen vor thromboembolischen Komplikationen zu schützen und zum anderen bedrohliche Blutungen zu vermeiden.

Die Leitlinie entstand aus der Analyse und Auswertung aktueller Literatur und zwei Konsensuskonferenzen im Jahr 2015. Bei einigen Detail-Empfehlungen in der Leitlinie gab es Sondervoten der DGMKG – etwa bei der Therapie mit Cumarinen, Dabigatran sowie bei der Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten vs. Bridging. Hier nimmt die DGMKG eine andere Haltung ein als in der Leitlinie formuliert. Auch die Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) äußerte sich in einem Punkt abweichend von der Leitlinie – und zwar bei der Frage der selektiven Cyclooxygenase-2-Inhibitoren.

Die Leitlinie kam ohne Patientenbeteiligung zustande: Die vier angefragten Patientenverbände reagierten nicht. Die nächste geplante Überarbeitung der Leitlinie ist für August 2020 vorgesehen. Kämmerer animiert alle Kollegen mit diesem Patientenklientel, ihre Erfahrungen aus der Anwendung der Leitlinien an ihn weiterzuleiten. Sie sollen in die Überarbeitung einfließen.

PD Dr. Dr. Peer W. Kämmerer im Audio-Interview mit dem Dental Online Channel zur S3-Leitlinie