Prophylaxe

Große Debatte um kleine Zähne

Zahnärzte fordern eine optimierte Kariesprophylaxe für Babys und Kleinkinder – das heißt: Untersuchungen zur Früherkennung und fluoridhaltige Zahncreme ab dem ersten Zahn. Davon sind die Kinderärzte wenig begeistert. Während sich beide Berufsgruppen auf lokaler Ebene langsam annähern, bleiben die Fronten in den nationalen Gremien verhärtet.



Nina Marie Trimborn ist gerade drei Jahre alt geworden Mit sechs Monate bekam sie ihren ersten Milchzahn. Seither war sie schon sechs Mal beim Zahnarzt – nicht etwa, weil ihre Zähne kariös sind, sondern weil Zahn- und Kinderärzte in ihrer Heimatstadt Mönchengladbach ein bundesweit einmaliges Prophylaxeprogramm gegen Milchzahnkaries ins Leben gerufen haben. Im Alter von sechs bis sieben Monaten erhält dort jedes Baby bei der Vorsorgeuntersuchung U5 vom Kinderarzt den Zahnärztlichen Kinderpass der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Nordrhein. Ab dem ersten Zahn beginnt mit der UZ1 die Prophylaxe, inklusive Beratung der Eltern und Behandlung des kleinen Patienten. „Alle Zahnärzte sind dafür speziell geschult, machen eine Fluoridanamnese und wissen, wie viel Fluorid im Trinkwasser ist“, sagt Dr. Jürgen Zitzen, der die Initiative ZIMkid der Zahnärzte Initiative Mönchengladbach 2009 ins Leben rief. „Das Wichtigste bei der Aktion: Kinderärzte und Zahnärzte sprechen mit einer Stimme.“
Doch an dem, was in der 250 000-Einwohner-Stadt Mönchengladbach scheinbar reibungslos funktioniert, beißen sich Zahnärzte und Kinderärzte auf Landes- und Bundesebene fast die Zähne aus. „Die Kompetenz für Mundhygiene und Ernährungsberatung bei 0- bis 3-Jährigen liegt eigentlich bei den Zahnärzten“, sagt Prof. Dr. Elmar Hellwig, Prophylaxeexperte an der Uniklinik Freiburg. „Die Kinder müssen früh Kontakt zum Zahnarzt bekommen und die Umgebung dort kennenlernen. Spätestens mit einem Jahr sollte das Gebiss untersucht werden“, fordert er.
Laut den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) über die Früherkennungsuntersuchungen von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten beginnen zahnärztliche Früherkennungsuntersuchungen erst mit dem 30. Lebensmonat. Davor liegt die Zahngesundheit im Rahmen der Früherkennungsuntersuchungen U3 bis U7 in den Händen der Kinder- und Jugendärzte. Das sei gut so, sagt Dr. Thomas Fischbach, Vorstandsmitglied im Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. „Wir sind nicht der Meinung, dass ein Baby mit sechs Monaten schon zur speziellen Zahnprophylaxe zum Zahnarzt muss“, sagt der Solinger Kinder und Jugendarzt. „Nach den ersten Zähnen schauen und die Eltern hinsichtlich der Zahnpflege beraten ist Bestandteil unserer Beratungstätigkeit im Rahmen der Kinderfrüherkennungsuntersuchungen.“

Fluorid: Tablette oder Paste?

Weiterer Knackpunkt der Debatte zwischen Kinder- und Zahnärzten ist die Art und Weise der Fluoridierung. Weil sich beide Parteien nicht einigen können, zitiert die S2-k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) zu Fluoridierungsmaßnahmen zur Kariesprophylaxe zwei unterschiedliche Empfehlungen: Zahnärzte plädieren fürs Putzen mit fluoridhaltiger Zahncreme schon ab dem ersten Zahn. Kinder- und Jugendärzte dagegen plädieren bis zum Ende des 2. Lebensjahres für die Gabe einer kombinierten Vitamin D- und Fluoridprophylaxe. Zu Recht, sagt Fischbach. Seiner Meinung nach habe sich durch dieses bewährte Vorgehen die Zahngesundheit von Kleinkindern in den vergangenen Jahren stark gebessert. „Bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr sind die Kinder durch eine Fluorid-Supplementierung, die zur Vitamin-D-Tablette gegeben wird, ausreichend gut vor Karies geschützt“, sagt der Solinger Kinder- und Jugendarzt. Im dritten Lebensjahr stehe dann der erste Zahnarztbesuch an, bei Auffälligkeiten natürlich bereits früher. „Bis vor Kurzem gab es dazu einen Konsens mit den Zahnärzten“, bedauert Fischbach.

Erster Zahn – erster Zahnarztbesuch?

Die Zahnärzte vertreten geschlossen eine andere Ansicht, gestützt von aktuellen Studien: „Fluoride wirken direkt an der Zahnoberfläche“, erklärt Prof. Dr. Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer. Somit sei der Gebrauch fluoridhaltiger Zahncreme eine sehr effektive Methode, Fluoride den Zähnen zuzuführen, und zwar ab dem ersten Milchzahn. „Durch das Bundesinstitut für Risikobewertung wurde festgestellt, dass Kinder eine ganze 70-Gramm-Tube schlucken müssten, um Bauchschmerzen zu bekommen“, bemerkt Oesterreich im Hinblick auf von den Kinderärzten benannte Risiken. Er kritisiert die Verschreibung von Fluoridtabletten ohne vorherige Fluorid-Anamnese. „Wir haben festgestellt, dass die Karies-Problematik bei den 0- bis 3-Jährigen zunimmt – und führen das großenteils auf mangelndes Wissen der Eltern zurück, etwa hinsichtlich Ernährung, aber auch über die Mundhygiene. Leider haben viele Kinder vor dem dritten Lebensjahr keinen Kontakt zum Zahnarzt. Offensichtlich reicht der Kinderarzt als alleiniger Ansprechpartner vor dem Hintergrund der Zunahme der frühkindlichen Karies nicht aus.“

Auch Prof. Dr. Christian Splieth, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde, kritisiert die gegenläufigen Empfehlungen von Kinder- und Zahnärzten: „Die Eltern wissen nicht, was sie machen sollen – es findet unstrukturierte bis gar keine Prophylaxe statt.“ An der Universität Greifswald behandelt er besonders schwere Kariesfälle. „Bei diesen Kindern hat die Prophylaxe nicht funktioniert“, erklärt er. Als Folge müssen schon früh Zähne unter Vollnarkose gezogen werden.

Häufigste chronische Erkrankung im Vorschulalter

Tatsächlich gilt Karies als die häufigste chronische Erkrankung im Vorschulalter, unter anderem, weil frühkindliche Karies, auch Early Childhood Caries (ECC) oder Nuckelflaschenkaries genannt, durch die Prophylaxelücke vor dem 3. Lebensjahr zu spät erkannt wird. Laut aktuellen Studien seien durchschnittlich 10 bis 15 Prozent der Kinder von ECC betroffen, warnt die BZÄK. „Viele Eltern unterschätzen, wie wichtig ein gesundes Milchzahngebiss für die Gesundheit der bleibenden Zähne ist“, moniert Splieth. Zudem seien zu wenige Zahnärzte in der Kinderzahnheilkunde geschult.

Um zu einem früheren Zeitpunkt mit der Kariesprohylaxe zu beginnen, hat die Bundeszahnärztekammer gemeinsam mit der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung, dem Bundesverband der Kinderzahnärzte und dem Deutschen Hebammenverbund unter wissenschaftlicher Begleitung der Universität Greifswald das Versorgungskonzept „Frühkindliche Karies vermeiden“ entwickelt. Danach sollen für Kinder zwischen dem 6. und 30. Lebensmonat drei systematische zahnärztliche Früherkennungsuntersuchungen eingeführt werden, inklusive Aufklärung der Eltern über Mundhygiene und zahngesunde Ernährung und Dokumentation im gelben Heft für die Kinder-Vorsorgeuntersuchungen. Ziel der Kampagne: Bis 2020 soll der Anteil der kariesfreien Sechsjährigen von aktuell 56 auf 80 Prozent klettern.

Doch um dieses Ziel zu erreichen und eine lückenlose Prophylaxe zu realisieren, fehlt eine entscheidende Berufsgruppe im Kampf gegen Kinderkaries: Die Kinderärzte beteiligen sich (noch) nicht an diesem Projekt. „Wir können und wollen die Kinderärzte nicht außen vor lassen und wissen, dass seitens der kinderärztlichen Fachverbände derzeit noch Vorbehalte bestehen. Wir wollen den Kinderärzten keine Kompetenz nehmen, sondern zahnärztliche und kinderärztliche Kompetenz vernetzen“, erklärt Oesterreich. Auch Splieth ist überzeugt, dass die frühkindliche Prophylaxe nur unter Mithilfe der Pädiater gelingt: „Wir müssen die Kinderärzte mit ins Boot nehmen. Sie müssen Eltern auf den Zahnarztbesuch hinweisen.“ Hellwig ist der Meinung, dass die beiden Berufsgruppen „ideologisch so verkrampft“ sind, dass nur ein Generationswechsel bei Kinder- und Zahnärzten das Begraben des Kriegsbeils bewirken könne. „Es handelt sich eher um einen Streit um die Kompetenz – das ist auch aus internationaler Sicht nicht mehr nachvollziehbar“, kritisiert er.
Selbst auf kommunaler Ebene existieren bisher nur vereinzelte Kooperationen – neben Mönchengladbach beispielsweise in Greifswald. „Unverständlich, aber meine Kollegen in anderen Städten sperren sich bisher noch“, beklagt Dr. Jörg Hornivius. Der Mönchengladbacher Kinderarzt ist Mit-Initiator von ZIMkid und ebenfalls in berufspolitischen Gremien tätig. „Mönchengladbach ist so etwas wie ein gallisches Dorf“, beschreibt er. Auf Bundesebene seien die Kinderärzte leider anderer Meinung. „Zwei unterschiedliche Fluoridempfehlungen enden mit Gezerre am Kind“, befand der Mönchengladbacher Zahnarzt Zitzen im Jahr 2008. Die Zahnärzte Initiative Mönchengladbach lud den Schweizer Fluorid-Experten Prof. Dr. Thomas Attin ein, um die Kinderärzte von der lokalen Fluoridierung zu überzeugen. Die Taktik ging auf: Das Plädoyer des Direktors der Klinik für Präventiv-Zahnmedizin, Parodontologie und Kariologie der Universität Zürich überzeugte alle Anwesenden, und in ganz Mönchengladbach geben seither weder Kinderärzte noch Geburtskliniken Fluoridtabletten aus. Die Kinder- und Jugendärzte übernehmen die Verantwortung für die Mundgesundheit bis zum Durchbruch der ersten Zähne; ab dann erfolgt die erste Vorstellung beim Zahnarzt. „Wir sind uns mit den Zahnärzten einig, dass Fluorid von außen besser ist als das, was man schluckt“, sagt Hornivius. Erste Erfolge von ZIMkid: Zwei Jahre nach dem Start der Aktion verbesserte sich die Mundgesundheit der unter 6-Jährigen deutlich, wie die Reihenuntersuchungen des Gesundheitsamts Mönchengladbach in Kindergärten zeigen. Um eine bundesweit vernetzte Prophylaxe bei 0 bis 3-Jährigen zu realisieren, müssen die Krankenkassen von der Wichtigkeit der frühkind‧lichen Kariesprophylaxe überzeugt sein und dafür eine angemessene Honorierung sowohl für Kinder- als auch der Zahnärzte schaffen – darüber sind sich alle Protagonisten einig. „Momentan machen wir Zahnärzte die Prophylaxe der ganz Kleinen quasi als Hobby“, berichtet Zitzen. „Auch an der fehlenden Aussicht auf angemessene Honorierung scheitern meiner Meinung nach Kooperationen in anderen Städten“, fügt Hornivius an. Für eine Vorsorgeuntersuchung bekommen Kinderärzte bisher 30 Euro. Weitere Leistungen ohne entsprechendes Entgelt zu erbringen sähen die meisten Kollegen nicht ein, sagt er.

Frühprophylaxe honorieren

„Durch die Honorierung einer intensiven Beratungs- und Behandlungszeit für Kinder- und Zahnärzte könnte man Milchzahnkaries wirksam bekämpfen“ – davon ist auch Dr. Martina Walther, Vorstand für Prävention bei der Zahnärztekammer Schleswig-Holstein, überzeugt. „Dazu ist die Barmer GEK einen ersten Schritt gegangen.“ Als erste gesetzliche Krankenkasse übernimmt sie bundesweit immerhin zwei zahnärzt‧liche Untersuchungen zwischen dem 6. und 30. Lebensmonat. Bei der AOK Rheinland/Hamburg läuft seit Juli 2013 ein Modellprojekt zur Zahngesundheit von Kleinkindern, das Kariesbildung bis zur ersten Früherkennungsuntersuchung FU1 im 30. Lebensmonat verhindern soll. Eltern werden bereits vor der Geburt und in den ersten drei Lebensjahren des Kinds zahnärztlich betreut. „Auch die Krankenkassen merken langsam: Die richtigen Probleme und Kosten tauchen auf, wenn die Kinderzähne umfangreich oftmals unter Vollnarkose saniert werden müssen“, sagt BZÄK-Vizepräsident Oesterreich. „Viele Eltern fallen aus allen Wolken, wenn sie hören, dass Apfelschorle aus der Nuckelflasche zum Dauergebrauch für die Kleinkinder ein Eldorado für Kariesbakterien bedeutet.“ Daher müsse erstes Ziel die umfassende Aufklärung der Eltern sein.

So setzt eine neue Initiative in Schleswig-Holstein ebenfalls bereits in der Schwangerschaft an: Zahnärztliche Kinderpässe für die frühkindliche Prophylaxe gibt es dort bereits seit 1999 – seit Dezember 2013 werden diese erstmals von niedergelassenen Gynäkologen zusammen mit dem Mutterpass an werdende Mütter verteilt. „In der Schwangerschaft sind Eltern oft aufnahmefähiger als nach der Geburt“, erklärt Dr. Martina Walther. „Außerdem: Wenn sich die Mutter um ihre eigene Mundgesundheit kümmert, ist ihr auch die des Kindes wichtig.“ Auch die Kinderärzte seien informiert und hätten Unterstützung zugesagt. „Man muss viele Bretter bohren – doch selbst wenn auf Bundesebene momentan kein Konsens zu erzielen ist, versuchen wir auf regionaler Ebene einen gemeinsamen Weg zu finden.“