Standortbestimmung Zahnersatz im Wachstum

Implantate bei Kindern: Ja oder nein?

Gibt es ein Mindestalter für Implantate? Sollte man bei jüngeren Patienten sicherstellen, dass das Wachstum abgeschlossen ist? Was tun bei traumatischem Zahnverlust bei einem 12- oder 14-Jährigen, was unternehmen bei Nichtanlagen? Einfach abwarten? Nein, meinen Dr. Jan Tetsch, Münster, und Prof. Dr. Dr. Hendrik Terheyden, Kassel.


Implantate bei Kindern

Traumatischer irreversibler Zahnverlust 21 eines 12-jährigen Jungen – prospektive Implantation mit Modifizierung der Regel 2 und 3 nach Buser, Martin und Belser im Alter von 14 Jahren und Antizipieren des Restwachstums. © Tetsch


Dr. Jan Tetsch, Münster

20 bis 30 Prozent der 7- bis 14-Jährigen sind von einem Frontzahntrauma in vielen Abstufungen der WHO-Klassifikation betroffen. Die Trendsportarten bei den Kindern und Jugendlichen sind die Hauptverursacher für primäre oder sekundäre Zahnverluste. Die Zähne sollten so lange wie möglich erhalten werden. Kommt es dennoch im Wachstum zu einem Verlust, dann sind die Folgen für ein Kind in vielerlei Hinsicht problematisch.

Psychische Belastung

Problematisch ist neben der messbaren Atrophie der Kieferbreite und -höhe auch in vielen Fällen der Verlust des Attachments an den benachbarten Zähnen mit entsprechenden Taschenbildungen und Knochenabbaureaktionen. Dies ist ein irreversibler, nicht reparabler Prozess. Die Gesamtentwicklung der Kinder ist für mich ein wesentlicher Gesichtspunkt bei der Therapieplanung. Das Fehlen eines Frontzahns im sichtbaren Bereich ist für Kinder ein echtes Problem. Nicht selten kann es zu psychischen Belastungen in jeglicher Form führen – besonders nach dem 12. Lebensjahr, wenn die reguläre Dentition der Freunde beendet ist.

Implantate bei Kindern

Hypoplasie des Alveolarfortsatzes regio 31, 41 – Ursache: fehlende zweite Dentition, die hauptverantwortlich für die Ausbildung des Alveolarfortsatzes in Höhe und Breite ist. © Tetsch

Wenn ein Frontzahnverlust im Kindes- oder Jugendalter auftritt und die implantatprothetische Versorgung – wie von einigen Lehrmeinungen gefordert – erst nach dem 27. Lebensjahr erfolgen soll, entsteht in diesem „Therapie-Vakuum“ eine Atrophie des vorhandenen Restknochens, die im im ersten Jahr nach Zahnverlust bis zu 63 % der Kieferbreite und bis zu 22 % der Kieferhöhe betragen können. Umfangreiche und unbefriedigende Augmentationen von Hart- und Weichgewebe sind die Folge mit häufig ernüchterndem Ergebnis.

Phänotypveränderung bis ins Greisenalter

Der Mensch verändert sich in seinem Phänotyp bis ins Greisenalter. Für mich ist die Gesamtentwicklung des Kindes wichtig – und die Zeit zwischen dem 12. und 30. Lebensjahr hat für die individuelle Gesamtentwicklung eine sehr prägende Bedeutung. In dieser Phase sollte ein unbeschwertes Auftreten möglich sein und ein fehlender Zahn keine Belastung darstellen.

Wir haben für die Problematik ‚Implantatinsertion im Wachstum‘ die prospektive 5D-Implantation entwickelt. <span class="su-quote-cite">Dr. Jan Tetsch</span>

Die Insertion von Implantaten bei Kindern vor dem 12. Lebensjahr führen wir nur bei totaler Anodontie durch, um Kinderprothesen zu stabilisieren. Dies ist häufig notwendig, um neben der Kaufunktion auch eine reguläre Sprachentwicklung gewährleisten zu können.

Hypoplasie des Alveolarfortsatzes bei multiplen Nichtanlagen UK. © Tetsch

Der Alveolarfortsatz wird ausgebildet vom Wachstum der vitalen bleibenden Zähne. Devitale Zähne bzw. Implantate, die bei Kindern in der Wachstumsphase gesetzt werden, wachsen ankylotisch ein und nehmen am weiteren Wachstum nicht teil. Infolgedessen entsprechen die Länge der Schneidekante und das Emergenzprofil im marginalen Bereich nach Abschluss des Wachstums nicht mehr denen des kontralateralen Zahns. Korrekturen der Prothetik sind mit einfachen Mitteln möglich. Korrekturen des Durchtrittsprofils und die Veränderung der Lage des Implantats jedoch nicht.

Implantate bei Kindern: prospektive 5D-Implantation entwickelt

Wir haben genau für diese Problematik die prospektive 5D-Implantation entwickelt und implantieren nach den Buser-Regeln 1, modifiziert 2 und 3. Dabei wird die vestibulo-orale Implantatposition entsprechend des Wachstumsstypen cw oder ccw nach vestibulär oder oral modifiziert, und die Vertikalposition dem noch zu erwartenden Restwachstum angepasst. Das Implantat wird so positioniert, dass nach Abschluss des Wachstums das Durchtrittsprofil dem des kontralateralen Zahnes entspricht. Freiliegende Implantatanteile werden durch Augmentationsmaßnahmen abgedeckt, zum Bespiel mit der Umbrellatechnik. Das zukünftige Emergenzprofil entspricht damit dem Emergenzprofil des kontralateralen Zahns nach Abschluss des Wachstums. Zu Behandlungsbeginn ist die Krone im marginalen Durchtritt immer zu kurz gestaltet. Die Prothetik wird veränderbar konstruiert, so dass die Inzisalkante durch Verlängerung korrigiert werden muss, ggf. auch durch Neuanfertigung der Krone.


Prof. Dr. Dr. Hendrik Terheyden, Kassel

Die Ansicht, dass Männer erst ab 23 und Frauen ab 26 Jahren ein Implantate erhalten sollten, weil sich in diesem Alter das Kieferwachstum auf ein Minimum reduziert, ist sehr verbreitet, aber fehlerhaft. Es ist zwar richtig, dass bei jungen Erwachsenen, bei sehr genauer Messung sogar lebenslang noch ein geringes weiteres Kieferwachstum auftritt, aber das Ausmaß ist nach der Adoleszenz relativ gering, so dass man es durch Korrektur der Zahnkrone oder durch eine kompensatorisch etwas erhöhte Implantatposition bei Bedarf ausgleichen kann. Die Vorhersage des zu erwartenden weiteren Wachstums bei einem Adoleszenten kann in gewissen Grenzen mit etwas klinischer Erfahrung ganz gut getroffen werden. Entscheidend ist, den pubertären Wachstumsschub, bei Mädchen bis zur Menarche, bei Jungen etwas länger bis etwa 16 Jahren, abzuwarten beziehungsweise mit konservierenden Mitteln wie Apexifikation zu überbrücken. Dies passt auch zum Leidensdruck, der in der Regel vor der Pubertät nicht so ausgeprägt ist. Aber nach der Pubertät tritt der Wunsch nach einer vollständigen Zahnreihe zunehmend in den Vordergrund der Risikoabwägung und das reine Lebensalter sollte keine Kontraindikation sein.


Wachstum lässt sich nicht kontrollieren

Das Kieferwachstum der Kinder lässt sich zwar mit regelmäßigen Röntgenaufnahmen dokumentieren, die Zeitabstände müssen aber mit Blick auf die Strahlenbelastung mit Bedacht gewählt werden. Kontrollieren lässt sich das Wachstum der Kinder ohnehin nicht. Denn der Oberkiefer wächst durch Substanzflucht (Abbau nasal und Anbau oral) und kann durch keine therapeutische Maßnahme daran gehindert werden. Es wäre auch aus Gründen der Gesichtsentwicklung kontraindiziert. Im Gegenteil: Man möchte das normale Kieferwachstum eher fördern.

Die Leitlinie ‚Zahnimplantatversorgungen bei multiplen Zahnnichtanlagen und Syndromen‘ hat nun endlich mehr Sicherheit gebracht. <span class="su-quote-cite">Prof. Dr. Dr. Hendrik Terheyden</span>

Implantate bei Kindern vs. Adhäsivbrücken als Alternative

Adhäsivbrücken, besonders wenn sie einflügelig gestaltet sind, sind eine gute Alternative zu Implantaten bei Kindern im Wachstumsalter. Allerdings setzen sie intakte permanente Nachbarzähne voraus und sind daher eher etwas für Nichtanlagen einzelner Zähne und eher nicht für Oligodontien geeignet. Da kommen eher autologe Zahntransplantate im Wachstumsalter zur Anwendung. Eine Verwendung von Zahnimplantaten vor dem 12. Lebensjahr ist der absolute Ausnahmefall, beispielsweise bei einer angeborenen Anodontie ohne Möglichkeit, konventionell prothetisch eine ausreichende Kaufunktion zu erreichen. Für Frontzahntraumata besteht zu einem solch früher Zeitpunkt mit der Transplantation von Milcheckzähnen eine gute Alternative. Für Zahnimplantate bestehen zu einem so frühen Zeitpunkt zwei Gefahren: die Infraokklusion des Zahnimplantats im weiteren Wachstum mit Nachbarzahnschädigung und die erhöhte Verlustrate von Implantaten bei Kindern in dieser Altersgruppe. Studien dazu existieren zwar, aber das Evidenzniveau ist sehr niedrig. Es handelt sich um retrospektive und nicht kontrollierte Fallserien.


Endlich mehr Sicherheit

Die Leitlinie „Zahnimplantatversorgungen bei multiplen Zahnnichtanlagen und Syndromen“ hat nun endlich mehr Sicherheit gebracht. Denn starre Altersregeln wurden aufgebrochen. Dadurch kann der Zahnarzt die Indikation zum Zahnersatz im Kindes- und Jugendalter individueller und mit mehr Sicherheit treffen. Auch die Alternativtherapien wurden gut dargestellt. Beispielsweise wurde für Einzelzahnlücken die Indikation zum kieferorthopädischen Lückenschluss versus Zahnersatz definiert. Die Leitlinie hat klar gezeigt, dass autologe Zahntransplantate und auch die Erhaltung eines gesunden Milchzahnes, wenn er nicht in Infraokklusion steht und keine Ankylose hat, eine den Implantaten mindestens ebenbürtige Prognose haben. Implantate sind eben nicht immer die beste Wahl, insbesondere nicht bei Kindern.

Zahnverlust und Nichtanlagen

Wir unterscheiden die Patienten mit Zahnverlusten von den Patienten mit Nichtanlagen. Der Alveolarfortsatz wird in seiner zweiten Phase durch das Wandern der bleibenden Zähne zur Kauebene ausgebildet. Dabei nimmt der Zahn seinen Knochen mit zur Kauebene und bildet nach Abschluss des Wachstums den Alveolarfortsatz.

Zahnverlust: Gefahr der Atrophie

Entsprechend der Ausbildung des Alveolarfortsatzes kann ein regulär ausgebildeter Alveolarfortsatz nach Zahnverlust atrophieren. Diese Atrophie beträgt Untersuchungen zu Folge im ersten Jahr bis zu 60 % der Kieferbreite und 11–22 % der Kieferhöhe. Da der Wachstumsschub des Zahnes nach Verlust fehlt und gleichzeitig die benachbarten Zähne weiter zur Kauebene wachsen, verstärkt sich der dem Wachstum entgegen gesetzte Effekt der Atrophie.

Dieser Atrophie sollte frühzeitig mit einer funktionellen implantologischen Belastung des Alveolarfortsatzes entgegengesteuert werden – idealerweise mit einer prospektiven Implantatpositionierung unter Berücksichtigung des ausstehenden Restwachstums, die dem Emergenzprofil des kontralateralen Zahnes nach Wachstumsende entspricht.

Nichtanlage: primäre Hypoplasie, keine Gefahr der Athrophie

Bei Nichtanlagen ist der Alveolarfortsatz nur rudimentär ausgebildet. Hier liegt eine Hypoplasie vor – eine weitere Atrophie ist nicht zu erwarten, da der Alveolarfortsatz ohne das dentinogene Wachstum entstanden ist. Entsprechend besteht ein großes Therapiezeitfenster, da die schlechten morphologischen Voraussetzungen sich nicht verschlechtern, besonders dann nicht, wenn persistente Milchzähne den krestalen Anteil erhalten.

Quelle: Tetsch


Die Experten

Foto: Privat

Dr. Jan Tetsch
Fachzahnarzt für Oralchirurgie, niedergelassen in eigener Praxis in Münster, hat sich unter anderem auf Implantate bei Kindern und Jugendlichen spezialisiert, implantierte auch bei seinem 14-jährigen Sohn.

Foto: Privat

Prof. Dr. Dr. Hendrik Terheyden
Chefarzt der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie an den DRK Kliniken Nordhessen, Kassel.