Recht

Die hypothetische Einwilligung des Patienten

Immer häufiger ziehen Patienten vor Gericht. Allerdings lassen sich viele Auseinandersetzungen bereits im Vorfeld regeln, insbesondere dann, wenn bei der Behandlung tatsächlich etwas schiefgelaufen ist. Anders ist es naturgemäß, wenn die Behandlung lege artis war.


Viele rechtliche Auseinandersetzungen mit Patienten lassen sich bereits im Vorfeld regeln. © W. Heiber Fotostudio – Fotolia


Eine Haftung des Zahnarztes kommt – abgesehen von einem Behandlungsfehler – auch dann in Betracht, wenn der Patient nicht wirksam in die Behandlung eingewilligt hat. Die wirksame Einwilligung setzt eine ordnungsgemäße Aufklärung voraus. Nur die ordnungsgemäße und vollständige Aufklärung verschafft dem Patienten eine ausreichende Wissensgrundlage, mit der er dann seine eigenständige Entscheidung treffen kann. Das im Grundgesetz geschützte Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist zwingend zu beachten. Der Patient muss darüber in Kenntnis gesetzt werden, welche Risiken, Alternativen, Kosten usw. mit dem geplanten Eingriff verbunden sind.

Aufklärungsfehler beweisen

Prozessrechtlich liegt der wesentliche Unterschied zwischen dem Behandlungsfehlervorwurf und dem Aufklärungsfehlervorwurf für den Zahnarzt darin, dass beim Behandlungsfehler der Patient und beim Aufklärungsfehler der Zahnarzt die Beweislast trägt.

Bestehen Zweifel an der korrekten Aufklärung oder kann der Zahnarzt diese nicht hinreichend nachweisen, kann eine Haftung trotzdem entfallen, wenn eine sogenannte „hypothetische Einwilligung“ des Patienten angenommen werden kann. Von einer hypothetischen Einwilligung spricht man, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Patient – wäre er korrekt und vollständig aufgeklärt worden – in die Behandlung uneingeschränkt eingewilligt hätte. Damit entfällt gleichsam die „Berechtigung“ für die Aufklärungsrüge seitens des Patienten, wenn der Patient nicht einen sogenannten plausiblen Entscheidungskonflikt darlegen kann, in den er bei einer vollständigen Aufklärung geraten wäre.

In einem Fall, der in zwei Instanzen vor den Kölner Gerichten entschieden wurde, hat gerade diese hypothetische Einwilligung des Patienten dazu geführt, dass der Zahnarzt nicht haften musste. Das Landgericht hatte die Klage des Patienten in erster Instanz abgewiesen und das Oberlandesgericht (OLG) hat diese Entscheidung in zweiter Instanz bestätigt.

Im Streit stand die Indikation zur Extraktion aller Zähne. Der vom Gericht hinzugezogene Sachverständige bestätigte die Indikation, womit das Vorliegen eines Behandlungsfehlers verneint werden konnte. Ein dauerhafter Erhalt der Zähne wäre auf lange Sicht nicht möglich, jedenfalls äußerst fraglich gewesen, wobei insbesondere eine Nutzung als Prothesenanker nicht in Betracht kam. Das Gericht führt in seiner Entscheidung vom 18.05.2015 (Az. 5 U 12/15) zu den Ausführungen des Sachverständigen aus: „Zur Begründung hat er auf den aus der Röntgenaufnahme ersichtlichen massiven generalisierten horizontalen Knochenabbau im gesamten Gebiss, hinzutretende massive vertikale Knocheneinbrüche an neun Zähnen sowie weitere im Röntgenbild erkennbare Auffälligkeiten verwiesen. Die Zähne des Klägers seien nicht mehr, wie erforderlich, mindestens in der Länge der klinischen Krone im Knochen verankert gewesen. Mängel der Begutachtung, die eine weitere Sachaufklärung in einem Berufungsverfahren erfordern würden, sind weder dargetan noch erkennbar.“

Das Gericht verneinte nicht nur das Vorliegen eines Behandlungsfehlers, sondern ging ferner – unabhängig von einer vielleicht unzureichenden Aufklärung – ganz klar von einer hypothetischen Einwilligung aus, die der Patient auch nicht mit der Darlegung eines plausiblen Entscheidungskonflikts beiseite schieben konnte.

Entscheidungskonflikt

Das OLG Köln führt dazu aus: „Eine Haftung wegen mangelhafter Eingriffs- und Risikoaufklärung scheidet jedenfalls deshalb aus, weil der von allen Beklagten erhobene Einwand einer hypothetischen Einwilligung durchgreift. Beruft sich der Arzt auf die hypothetische Einwilligung des Patienten, so kann dieser den ärztlichen Einwand dadurch entkräften, dass er nachvollziehbar geltend macht, er hätte sich bei ordnungsgemäßer Aufklärung in einem echten Entscheidungskonflikt befunden. Er muss dazu einsichtig machen, dass ihn die Frage nach dem Für und Wider des ärztlichen Eingriffs ernsthaft vor die Entscheidung gestellt hätte, ob er zustimmen soll oder nicht.

So liegt es hier nach dem für die Beurteilung der Erfolgsaussichten maßgeblichen Sach- und Streitstand nicht. Der Kläger hat einen Entscheidungskonflikt schon nicht schlüssig dargelegt. … Die vom Kläger angeführten Alternativen zu einer Extraktion aller Zähne, auf die er sich für einen Entscheidungskonflikt beruft und die einen solchen hätten begründen können, bestanden nach den Ausführungen von Dr. B eindeutig nicht.

Ein bloßes Abwarten habe – so der Sachverständige – keine Alternative dargestellt, weil der Verlust der zwischen dem Pfeilerzahn 13 und dem Brückenglied 14 gebrochenen Brücke unmittelbar bevorgestanden habe. Das OPG vom 12.1.2011 zeige, dass bei dem Pfeilerzahn 16, der die Brücke allein getragen habe, bereits der intraradikuläre Raum zwischen den Wurzeln freigelegen habe. Der Verlust des Zahns 16 und der Brücke hätten Beschwerden und den Wegfall der Stützzone zur Folge gehabt, was Einfluss auf das craniomandibuläre System gehabt hätte.

Fraglicher Zahnerhalt

Eine Reparatur der Brücke von Zahn 13 bis Zahn 16 sei nicht möglich und ebenso wie eine Neuanfertigung der Brücke deshalb nicht angezeigt gewesen, weil die Pfeilerzähne hierfür nicht mehr geeignet gewesen seien. Aus dem OPG vom 12.1.2011 ergebe sich, dass der Zahn 13 massive vertikale Knocheneinbrüche und eine Aufhellung an der Wurzelspitze aufgewiesen habe, die auf ein chronisches entzündliches Geschehen schließen lasse. Letzteres erfordere eine Wurzelspitzenresektion, die die noch vorhandene Zahnwurzel verkürzen und den Zahnerhalt weiter einschränken würde.

Eine Versorgung der Region 13 bis 16, in der sich die gebrochene Brücke befunden habe, mit Implantaten hätte dem zahnärztlichen Standard widersprochen. Dies hätte die Situation der Zähne im linken Unterkiefer unberücksichtigt gelassen. Bei der Durchführung einer Zahnersatzbehandlung sei das gesamte Kauorgan, also der Ober- und der Unterkiefer, in die Betrachtung und Planung einzubeziehen. Aus der Auswertung des Röntgenbildes ergebe sich, dass ein Erhalt aller Zähne auf Dauer nicht gegeben bzw. äußerst fraglich gewesen sei.

Die vorstehend wiedergegebenen Ausführungen des Sachverständigen Dr. B, der bezogen auf den Kläger auch die Möglichkeit eines schrittweisen Vorgehens nicht hat feststellen können, sind überzeugend. Sie stützen sich auf das unmittelbar vor der Extraktion gefertigte Orthopantogramm vom 12.1.2011, das Dr. B ausführlich befundet hat. Ausgehend von dieser Auswertung und den beschriebenen Schädigungen der einzelnen Zähne ist es nachvollziehbar, warum die grundsätzlich denkbaren Alternativen eines Abwartens, einer Brückenversorgung der Region 13 bis 16, einer Implantatversorgung der Region 13 bis 16 und eines schrittweisen Vorgehens seinerzeit nicht in Betracht kamen. “

In dieser Entscheidung kam ein weiterer wesentlicher Aspekt bei der Beweisführung der Aufklärung hinzu. Lässt sich nämlich – beispielsweise anhand von Zeugenaussagen – nachweisen, dass Patienten immer in einer bestimmten Weise aufgeklärt werden, spricht vieles für die Annahme, dass dies auch bei dem konkreten Patienten der Fall war.

Gesamtsituation

Diese Entscheidung und die Ausführungen des OLG Köln zeigen, dass in einem Verfahren regelmäßig die Gesamtsituation zu betrachten ist. Juristische sowie zahnmedizinische Aspekte können durchaus ineinandergreifen. Somit ist die Vertretung durch einen fachkundigen Rechtsanwalt in jedem Fall dringend anzuraten.

Dr. Susanna Zentai
ist Medizinanwältin in der Kanzlei Dr. Zentai – Heckenbücker in Köln und als Beraterin sowie rechtliche Interessenvertreterin (Zahn-)Ärztlicher Berufsvereinigungen tätig.
kanzlei@d-u-mr.de