Recht/Haftung

Urteil: Notfalldienst auch für Zweigpraxen

Regelmäßig ist die Verpflichtung der Zahnärzte zur Teilnahme am zahnärztlichen Notfalldienst Gegenstand von gerichtlichen Auseinandersetzungen. Ein aktuelles Urteil befasst sich mit dem Notfalldienst bei Zweigpraxen.



Neben der immer wieder aufkommenden Frage nach einem Anspruch auf Befreiung vom Notfalldienst brachten die Liberalisierungen im Zuge des Versorgungsstrukturgesetzes neue Rechtsfragen mit sich. Nachdem es Zahnärzten nunmehr möglich ist, neben ihrer Hauptniederlassung Zweigpraxen zu betreiben, kam die Frage auf, ob auch – bezogen auf diese Zweigpraxen – eine Verpflichtung zur Teilnahme am Notfalldienst bestehen kann. In einer jüngeren Entscheidung hat sich das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen mit dieser Frage befasst (OVG NRW, Urteil vom 27.02.2013, Az.: 13 A 602/10).

Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass eine Teilnahmeverpflichtung nicht nur für den Sitz der Hauptpraxis, sondern auch für den Notfalldienstbezirk der Zweigpraxis besteht.

Nach dem Urteil ist also die Heranziehung eines Zahnarztes zum zahnärztlichen Notfalldienst mit dem Heranziehungsfaktor 1 für den Notfalldienstbezirk seiner Hauptpraxis und dem Heranziehungsfaktor 0,5 für den Notfalldienstbezirk seiner Zweigpraxis nicht als Verstoß gegen Grundrechte unwirksam.

Rechtsgrundlage für die Heranziehung zum Notfalldienst sind die entsprechenden Normen des Heilberufe-Gesetzes sowie der Berufsordnungen und der auf dieser Grundlage ergangenen Notfalldienstordnungen (hier § 6 Abs. 1 Nr. 3, § 30 Nr. 2, § 31 Abs. 1 des HeilberG NW i. V. m. § 14 BO sowie § 3 Abs. 1 + 3 der NDO).

Nicht zu beanstanden ist nach der Rechtsprechung, dass der Notfalldienst durch die Zahnärztekammern und die kassenzahnärztlichen Vereinigungen gemeinsam organisiert wird. Die Tatbestandsvoraussetzungen für die Heranziehung der Kläger zum zahnärztlichen Notfalldienst sah das Gericht als gegeben an. Die betreffenden Zahnärzte sind i. S. d. § 30 Nr. 2 HeilberG NW, § 14 Abs. 1 Berufsordnung Zahnärzte WL Zahnärzte, die an der ambulanten Versorgung der Bevölkerung beteiligt sind. Gemäß § 9 Abs. 2 BO obliegt ihnen die ordnungsgemäße Verordnung der Patienten an jedem Ort, an dem sie ihre zahnärztliche Tätigkeit ausüben, mithin auch am Ort der Zweigpraxis. Die ordnungsgemäße Versorgung umfasst die Versorgung zu sprechstundenfreien Zeiten.

Die Zahnärztekammer Westfalen-Lippe hatte die Kläger für den Hauptsitz mit dem Faktor 1,0 und für die Zweigpraxis mit dem Faktor 0,5 herangezogen. Die Heranziehung entspricht den Regelungen in der in Westfalen-Lippe geltenden Notfalldienste-Ordnung.

Nach Auffassung des Gerichtes begegnet die Heranziehung mit dem Faktor 1 für den Hauptsitz und dem Faktor 0,5 für die Zweigpraxis keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Die Pflicht zur Teilnahme am zahnärztlichen Notfalldienst steht mit Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) im Einklang. Der Notfalldienst stellt die zahnärztliche Versorgung der Bevölkerung während der sprechstundenfreien Zeiten sicher und ist deshalb aus vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls geboten. Der hiermit verbundene Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit des Zahnarztes stellt sich grundsätzlich weder als übermäßig noch als unzumutbar dar.

Inhabern mehrerer Praxen kann grundsätzlich für jede Praxis eine gesonderte Pflicht zur Teilnahme am zahnärztlichen Notfalldienst auferlegt werden. Nimmt ein Zahnarzt für sich das Recht zum Betrieb mehrerer Praxen in Anspruch, folgt daraus zugleich eine mit Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG grundsätzlich zu vereinbarende umfangreiche Mitwirkungspflicht an der Notfalldienstversorgung.

Nichts anderes gilt für die Eröffnung einer Zweigpraxis. Hier korrespondiert das Recht des Zahnarztes, die Versorgung der Bevölkerung im Einzugsbereich seiner Zweigpraxis sicherzustellen, mit der Pflicht, an der Notfallversorgung desselben Bevölkerungskreises mitzuwirken.

Sind danach die Zahnärzte dem Grunde nach für die Sicherstellung der zahnärztlichen Versorgung der Patienten sowohl am Sitz ihrer Hauptpraxis als auch am Ort der Zweigpraxis verantwortlich, begegnet auch der Umfang ihrer Heranziehung keinen Bedenken.

Nach § 3 Abs. 1 der NDO WL werden zum Notfalldienst Zahnärzte mit eigener Praxis/angestellte Zahnärzte mit dem Faktor 1, Vertragszahnärzte mit hälftiger Zulassung und entsprechend verringerter Tätigkeit mit dem Faktor 0,5 und angestellte Zahnärzte mit hälftiger Genehmigung oder weniger mit dem Faktor 0,5 herangezogen. Angestellte Zahnärzte werden über den anstellenden Zahnarzt berücksichtigt. Gemäß § 3 Abs. 3 der NDO WL erfolgt für eine Zweigpraxis eine gesonderte Heranziehung des Praxisinhabers bzw. des Angestellten einer juristischen Person des Privatrechts, der diese verantwortlich führt, mit dem Faktor 0,5.

Nach Auffassung des Gerichts scheidet eine Addition der jeweiligen Heranziehungsfaktoren aus, weil die Heranziehung zum zahnärztlichen Notfalldienst für jeden Notfalldienstbezirk gesondert erfolgt und der Heranziehungsfaktor wegen der in den jeweiligen Notfalldienstbezirken bestehenden Besonderheiten nichts über die tatsächlich zu leistenden Notfalldienste besagt. Schon wegen der unterschiedlichen Zahl der am Notfalldienst beteiligten Zahnärzte im jeweiligen Notfalldienstbezirk und der diesen zukommenden unterschiedlichen Heranziehungsfaktoren kann sich etwa eine Heranziehung mit dem Faktor 1 in einem Notfalldienstbezirk in der Zahl der tatsächlich abzuleistenden Notfalldienste wesentlich von der Zahl der ebenfalls mit dem Faktor 1 abzuleistenden Notfalldienste in einem anderen Notfalldienstbezirk unterscheiden.

Eine Zusammenrechnung der Heranziehungsfaktoren kommt daher allenfalls in Betracht, wenn sich Praxissitz und Sitz der Zweigpraxis im selben Notfalldienstbezirk befinden. Gleichwohl verbliebe es auch in einem solchen Fall dabei, dass dem Heranziehungsfaktor für sich gesehen nichts über die tatsächliche Inanspruchnahme zu entnehmen wäre.

Da es sich insoweit bei dem Heranziehungsfaktor lediglich um eine Rechengröße handelt, ist auch deren Festsetzung für die Praxis und den Hauptsitz mit dem Faktor 1 bzw. 0,5 für die Zweigpraxis weder für sich gesehen noch in der Gesamtschau zu beanstanden.

Zwar hat der einzelne Arzt einen Anspruch darauf, dass er nicht in stärkerem Maße als ein Arzt in gleicher Lage für den Notfalldienst herangezogen wird. Mit diesen Vorgaben allerdings steht § 3 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 der NDO WL nach Auffassung des Gerichts im Einklang.

Die Beklagte bestimmt den Heranziehungsfaktor für selbständige Zahnärzte nach der Zahl der Praxissitze sowie ergänzend nach dem abstrakten Tätigkeitsumfang. Diese von der Beklagten zur Bestimmung des Heranziehungsfaktors gewählten Kriterien sind sachgerecht und zur effektiven Organisation des Notfalldienstes geeignet. Sie ist nicht gehalten, die Heranziehungsfaktoren rechnerisch an dem konkreten Umfang der Vertrags- oder privatzahnärztlichen Tätigkeit des betroffenen Zahnarztes oder an dem mit der Tätigkeit erwirtschafteten Gewinn auszurichten.

Die Berücksichtigung des Gewinns oder des privatzahnärztlichen Tätigkeitsumfangs bei der Bestimmung der Heranziehungsfaktoren wäre nicht nur mit einem erheblichen Verwaltungsaufwand verbunden. Sie würde auch dazu führen, dass die Heranziehung zum zahnärztlichen Notfalldienst wegen der jederzeit möglichen Ausdehnung oder Verringerung seiner privatzahnärztlichen Tätigkeit von individuellen, jederzeit von ihm beeinflussbaren Faktoren abhängig wäre. Dies aber stünde dem Gemeinwohlbelang, einen planbaren und jederzeit effektiven Notfalldienst zu gewährleisten, entgegen.

Die gewählten Kriterien zur Bestimmung des Heranziehungsfaktors hat die Beklagte in der Notfalldienstordnung nach Auffassung des Gerichts konsequent umgesetzt. Soweit für den Inhaber einer Einzelpraxis ein Faktor von 1 gewählt wurde, trägt dies dem Umstand Rechnung, dass dem Zahnarzt am Ort seines Praxissitzes das Recht zusteht, die Versorgung der Bevölkerung im Einzugsbereich der Praxis sicherzustellen. Mit der Eröffnung einer Zweigpraxis erweitert der Zahnarzt seinen Einzugsbereich, so dass eine zusätzliche Heranziehung gerechtfertigt ist. Auf den vom Zahnarzt mit der Zweigpraxis tatsächlich erwirtschafteten Gewinn kommt es ebenso wenig an, wie auf den vom Zahnarzt tatsächlich erbrachten Arbeitsaufwand. Die Heranziehung mit einem zusätzlichen Faktor von 0,5 für die Zweigpraxis ist auch in Bezug auf Vertragsärzte mit hälftiger Zulassung, die nur mit einem Faktor von 0,5 herangezogen werden, gerechtfertigt.

Eine Reduzierung des Heranziehungsfaktors für die Hauptpraxis bei Betrieb einer Zweigpraxis ist hingegen nicht angezeigt. Die Kläger haben weder vorgetragen noch ist dies sonstwie ersichtlich, dass der Betrieb einer Zweigpraxis sich regelmäßig dahin gehend auswirkt, dass die Hauptpraxis allenfalls noch (unter-)hälftig betrieben wird. Im Übrigen wäre dies ohnehin nach den rechtlichen Rahmenbedingungen wohl nicht zulässig.

Eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung ist zudem auch nicht im Hinblick auf überörtliche Berufsausübungsgemeinschaften festzustellen. Zwar eröffnet auch die Tätigkeit in einer überörtlichen Berufsausübungsgemeinschaft dem Zahnarzt die Möglichkeit, an einem weiteren Ort tätig zu sein und dort neue Patienten zu behandeln. Die Ungleichbehandlung mit Zweigpraxen ist jedoch gerechtfertigt. Die Beklagte hat hierzu ausgeführt, nach längerer Beratung sei entschieden worden, die in einer überörtlichen Berufsausübungsgemeinschaft tätigen Zahnärzte nach Maßgabe gemäß § 3 Abs. 1 NDO WL zu bestimmender Faktoren an dem Sitz heranzuziehen, an dem sie hauptverantwortlich tätig seien. Die Besonderheiten ergäben sich bei den Berufsausübungsgemeinschaften daraus, dass es sich üblicherweise um zwei Einzelpraxen handele, die sich zusammenschlössen, um Synergie-Effekte bei der Patientenbehandlung nutzen zu können. So werde etwa die Patientenbindung durch die Zusammenarbeit eines Zahnarztes mit einem Oralchirurgen erhöht, die einzelnen Praxen blieben aber in ihrer Grundstruktur faktisch erhalten. Anders als bei einer Zweigpraxis führe die Bildung einer überörtlichen Berufsausübungsgemeinschaft nicht zur Gründung einer zusätzlichen neuen Praxis. Maßgeblich sei zudem, dass die Notfallversorgung der Patienten der überörtlichen Berufsausübungsgemeinschaft bereits durch den in der überörtlichen Berufsausübungsgemeinschaft hauptverantwortlich tätigen Zahnarzt sichergestellt werde, während der Notfalldienst für die Patienten der Zweigpraxis – ohne Inanspruchnahme des Zweigpraxisinhabers – zu Lasten anderer im Notfalldienstbezirk tätiger Zahnärzte sichergestellt werden müsse.

Im Ergebnis hielt das Gericht die Heranziehung auch für den Notfalldienstbezirk der Zweigpraxis für nicht zu beanstanden.

Das Gericht bewegt sich damit auf einer Linie mit der Rechtsprechung des Landessozialgerichts NRW. Auch dieses hatte bereits am 23.12.2009 entschieden, dass Inhaber einer Zweigpraxis zum Notfalldienst verpflichtet sind (Beschluss vom 23.12.2009, Az.: L 11 B 19/09 KA ER). Auslösender Faktor für die Teilnahmepflicht sei die Niederlassung als Arzt, nicht hingegen die geografische Zuordnung dieser Tätigkeit. Mit der vertragsärztlichen Versorgung im Gebiet der Zweigpraxis sei der Notfalldienst untrennbar verbunden. Die dem Vertragsarzt auferlegte Verpflichtung, seinen Patienten umfassend zur Verfügung zu stehen, betreffe nicht nur die Patienten des Praxissitzes, sondern auch jene am Ort der Zweigpraxis. Wenn der Vertragsarzt für sich das Recht zum Betrieb mehrerer Praxen in Anspruch nimmt, so folgt daraus zwingend auch eine entsprechend umfangreichere Mitwirkungspflicht in der Notfalldienst-Verpflichtung. Die Heranziehung eines Arztes zu einem mehrfachen Notfalldienst sei daher nach dem Gleichheitssatz geboten. Auch in diesem Eilverfahren ging das LSG davon aus, dass unabhängig vom Umfang des Sprechstundenangebots eine Teilnahme am organisierten Notfalldienst am Ort der Zweigpraxis mit einem Faktor von 50 Prozent verpflichtend ist. In gleicher Weise hat sich dasselbe LSG in einem weiteren Eilverfahren geäußert (Beschluss vom 19.03.2012, L 11 KA 15/12 BE ER).

Der Gründer einer Zweigpraxis muss daher neben der durch die Zweigpraxis zwangsläufig geschaffenen doppelten Kostenstruktur immer auch berücksichtigen, dass er durch die Gründung der Zweigpraxis ggf. auch eine gesteigerte Notfalldienst-Verpflichtung in Kauf nimmt. Vor Gründung einer Zweigpraxis sind also auch der damit verbundene Mehraufwand und etwaige Mehrkosten in die Planung einzubeziehen.

Vor Gründung einer Zweigpraxis ist also auch insoweit abzuklären, ob in der entsprechenden Notfalldienstordnung eine Teilnahmeverpflichtung für die Zweigpraxis gegeben ist und wie die Verwaltungspraxis der jeweils zuständigen Landeszahnärztekammer/Kassenzahnärztlichen Vereinigung ist.

RA Jens-Peter Jahn ist Fachanwalt für Medizinrecht in der Kanzlei DR. HALBE RECHTSANWÄLTE in Köln. Tätigkeitsschwerpunkte: Zahnarztrecht, insbesondere im Zusammenhang mit Praxisgründungen, -abgaben oder -übernahmen sowie der Gründung oder Umstrukturierung von Kooperationen.
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