Arbeitsergonomie

Mit Schmerzen am Zahnarztstuhl

Veraltete Geräte und eine schlechte Haltung. Beides kann dazu führen, dass aus harmlosen Verspannungen chronische Leiden werden. Muskuloskelettale Erkrankungen sind in der Zahnarztpraxis an der Tagesordnung. Dabei ist Abhilfe häufig relativ einfach, vorausgesetzt, der Zahnarzt erkennt, wann und vor allem wie er handeln muss. Denn Ergonomie am Arbeitsplatz ist immer noch das Stiefkind in der universitären Ausbildung, sagen Experten.



Nach einem langen Arbeitstag spürt Zahnarzt schnell: Der Rücken schmerzt, die Gelenke sind steif. Oft sind die Verspannungen am nächsten Tag vergessen. Schwierig wird es, wenn diese häufig schmerzhaft auftreten oder chronisch werden. Dabei leiden Zahnärzte nicht häufiger an muskuloskelettalen Beschwerden wie Rückenschmerzen als Nichtzahnärzte. Jedoch sehen zwei Drittel von ihnen ihren Beruf als Beschwerdeursache an. Dagegen sagt nur jeder vierte betroffene Nichtzahnarzt, sein Beruf sei der Grund für die Schmerzen (Boeger 1980).

Zahnarzt Jens-Christian Katzschner erlitt nach nur drei Jahren Berufstätigkeit einen Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule, der zu Sensibilitätsausfällen in seiner Hand führte. „Mir wurde damals geraten, den Beruf zu wechseln“, sagt Katzschner. Heute, Jahrzehnte nach seiner Erkrankung, praktiziert er immer noch – beschwerdefrei.

Hände und Rücken betroffen

Während bei Ärzten wie Katzschner Rücken- und Nackenleiden überwiegen, gaben in einer australischen Studie von 2009 zwei Drittel der Dentalhygienikerinnen an, besonders an Erkrankungen der Muskeln, Sehnen und Nerven der Hände und Handgelenke zu leiden. Häufig kommt es dort zu einer Sehnenscheidenentzündung oder Beugesehnenscheidenentzündung. Eine Sehnenscheidenentzündung äußert sich durch Schmerzen an Hand oder Handgelenk, eine Beugesehnenscheidenentzündung führt zu Schmerzen unterhalb der Hohlhandbeugefurche und zu einer Steifigkeit der Finger.

Auch die Nerven in den Händen können in Mitleidenschaft gezogen werden. Beim Karpaltunnelsyndrom kommt es zu einer Einengung des Medianus-Nervs. Symptomauslösend für das Syndrom sind die gebeugte Haltung der Handgelenke genauso wie das kraftvolle Einsetzen schmaler und vibrierender Instrumente. Diese Erkrankung kann Jens-Christian Katzschner, der heute auch als Ergonomie-Experte arbeitet, besonders häufig bei seinen Teilnehmern beobachten. Daneben ist das Kubitaltunnelsyndrom die zweithäufigste Nervenengpassproblematik der oberen Extremität; es entsteht durch eine Verengung in Höhe des Ellenbogens. Dabei kommt es zu Gefühlsstörungen an der Handkante.

Nacken-, Schulter- und Rückenbereich sind ebenfalls anfällig für muskulo¬skelettale Erkrankungen und Beschwerden. „ Besonders klagen die Teilnehmer in meinen Seminaren über Verspannungen, Kopfschmerzen und Rückenbeschwerden der Hals- und Lendenwirbelsäule“, sagt Katzscher. Auch Taubheitsgefühle in den Extremitäten, Kribbeln in Armen und Hüftbeschwerden sind auf Fehlhaltungen, muskuläre Dysbalancen, Haltungsschwächen beziehungsweise Haltungsschäden wie Hohlkreuz, Rundrücken oder eine überwiegend nach vorn gebeugte Kopfposition zurückzuführen.

Ursachen Nummer eins

„Die primären Ursachen der meisten Krankheitsbilder sind die typische Arbeitshaltung, unphysiologisch und gebeugt, sowie die Dauer dieser Belastungen und der fehlende körperliche Ausgleich“, erklärt Ergonomie-Berater Manfred Just. Auch der stundenlange Einsatz vibrierender Werkzeuge bei gebeugter Stellung der Handgelenke kann Schäden verursachen. Just: „Die muskulären Verspannungen können durch externe Einflüsse wie Lärm, schlechte Luft oder elektromagnetische Belastung verstärkt werden.“ Begünstigt wird dies häufig durch Ausrüstung und Werkzeuge, die zwar teuer, aber nicht ergonomisch oder bereits veraltet sind („ein Behandlerstuhl muss schon 20 Jahre halten“) oder selbst als neue Möbel nicht den menschlichen Bedürfnissen nach Anpassbarkeit, also der Grundlage der Ergonomie, genügen; oft erscheint die äußere Gestaltung wichtiger als der ergonomische Nutzen, sagt Ergonomie-Experte Just.

Jedoch ist nicht nur die Arbeitsweise allein verantwortlich für die skelettalen und muskulären Krankheitsbilder von Zahnmedizinern und deren Fachpersonal. Auch die Auswirkungen von Stressoren sollten beachtet werden. Stress steht im direkten Zusammenhang mit dem Empfinden von körperlichen Schmerzen. Das geht aus Untersuchungen der Normalbevölkerung genauso hervor wie aus Studien zu zahnärztlichen Berufskrankheiten (vgl. Meyer, Brehler, Castro, Nentwig 2001). Es herrscht eine positive Korrelation zwischen der Intensität der Schmerzen und dem Belastungsgrad des Mediziners.

Bei Jens-Christian Katzschner war es auch das Zusammenspiel aus seiner Arbeitsweise und einer unpassenden Ausrüstung, das den Bandscheibenvorfall hervorrief: Er habe sich seine Arbeitsweise nur rein intuitiv während des Studiums angeeignet. „Ergonomie wird an den Universitäten oftmals gar nicht oder nur zu einem sehr geringen Umfang thematisiert“, so Dr. Diether Reusch, Geschäftsführer des zahnmedizinische Institut „Westerburger Kontakte“. Dazu kam, dass sein fehlendes Wissen über eine richtige Arbeitshaltung ihn in Verkaufsgesprächen zum Opfer umsatzorientierter Berater machte. „Ich kaufte damals eine Lupenbrille mit einem völlig unzureichenden Neigungswinkel. Aber da ich nicht wusste, was eine gute Brille auszeichnet, vertraute ich der Kompetenz des Verkäufers.“ Mit fatalen Folgen für seine Gesundheit.

Versicherungsschutz

Vorsorge ist besser als Nachsorge. Und der richtige Versicherungsschutz ist Teil davon. Einer aktuellen Statistik der Deutschen Ärzteversicherung zufolge sind Erkrankungen des Bewegungsapparats in zwölf Prozent der Fälle der Grund für eine Berufsunfähigkeit. Eine vorbeugende Maßnahme könnte der Abschluss einer Berufsunfähigkeits-(Zusatz-)Versicherung sein, so Karl-Heinz Silbernagel von der Deutschen Ärzteversicherung. Diese werde in der Regel auch von Zahnärzten abgeschlossen; es sei die beste Absicherung.

Silbernagel: „Es ist wenig sinnvoll, geringere Absicherungsformen wie die EU-Absicherung, eine Grundfähigkeiten-Absicherung oder eine Schwere-Krankheiten-Absicherung zu nutzen, da diese im Falle des Falles nicht ausreichen.“ Bei Versicherungsabschluss sollte unbedingt auf die Bedingungsqualität des Vertrags geachtet werden. Zudem sollte immer die zuletzt ausgeübte ärztliche Tätigkeit vor Eintritt der Berufsunfähigkeit ohne Verweisung auf andere Tätigkeiten versichert sein.

Arbeitsgesetze für die Praxis

Ergonomie bedeutet so viel wie „Arbeitsgesetz“. Es geht dabei darum, Arbeitsprozesse so zu gestalten, dass sie effizient, aber gleichzeitig gesundheitsschonend für den Ausführenden sind, sodass dieser der Tätigkeit möglichst lange nachgehen kann. Ergonomie-Experten differenzieren im Fall von Zahnärzten folgende Bereiche: erstens die Umgebung, also den Raum, das Licht, die Luft und die elektromagnetische Belastung, zweitens den Arbeitsplatz, also die ergonomische Gestaltung von Geräten und Möbeln. Es sollte beim Kauf zum Beispiel beachtet werden, dass die Liege nicht zu dick ist und die Beinfreiheit der Behandelnden zulässt. Darüber hinaus sollte ein Augenmerk auf Gütesiegel gelegt werden, die die Ergonomie der Möbel zertifizieren. Für rückengerechte Arbeitsgeräte gibt es seit 1995 das Siegel der Aktion Gesunder Rücken e. V. (AGR). Drittens sollten neben dem Arbeitsplatz auch alle Beteiligten im Fokus stehen, also der Behandler, die Assistenz und das Personal. Keiner der Beteiligten sollte zu Zwangshaltungen genötigt sein. Um das zu garantieren, muss eine optimale Patientenlagerung gewährleistet sein. Der letzte, vierte Bereich umfasst den Prozess, also den Ablauf der Behandlung, die Gestaltung von Pausen und Ausgleich. „Abwechslung innerhalb der Behandlungsabläufe, stündliche Pausen von zwei bis fünf Minuten mit Ausgleichsübungen und ‚echte‘ Mittagspausen ohne Arbeitstouch sind von hoher Wichtigkeit“, erklärt Just.

Individualität spielt wichtige Rolle

Es gibt eine Vielzahl an Ergonomie-Konzepten, die diese vier Aspekte beleuchten. Doch: „Jede Praxis hat Besonderheiten: räumlich, technisch oder auch personell. Deshalb funktioniert ein fertiges Konzept nach jemandem meistens nicht“, stellte Katzschner fest, nachdem er sich sehr umfassend mit dem Thema „belastungsfreies Arbeiten“ auseinandergesetzt hatte und nach Lösungen für sich suchte. „Ich sah mich daher gezwungen, nach und nach eine eigene Arbeitssystematik zu entwickeln, die individuell auf meine Praxis zugeschnitten ist.“ Dass Individualität eine wichtige Rolle in der Praxisergonomie spielt, kann Reusch bestätigen: „Jeder hat für sich Haltungen, die er als komfortabel empfindet.“

Er sieht dabei zwei unterschiedliche Ausgangssituationen: Die Praxisneugründung am Anfang des Berufslebens und die bestehende Praxis. „In der universitären Lehre gibt es keine richtige Ergonomie-Ausbildung. Daher sollte man sich bereits in der Assistentenzeit vor der eigenen Niederlassung informieren, um richtige Kaufentscheidungen treffen zu können, und sich um Arbeitskonzepte bezogen auf Sitzposition, Absaug- und Haltetechnik kümmern.“ Wenn eine Praxis schon lange besteht, kann man durch eine Analyse die bestehende Ausrüstung auch mit geringem Aufwand verbessern und dafür ein persönliches, auf die Praxis zugeschnittenes Arbeitskonzept entwerfen. „Dafür braucht es aber verkaufsneutrale Beratung und profunde Kenntnis der unterschiedlichen Arbeitskonzepte“, gibt Katzschner zu bedenken. „Zehn Zentimeter können schnell ein ganzes Konzept vereiteln.“

Adaptionskapazitäten steigern

Zusätzlich zur Veränderung der Arbeitsweise können die Adaptationskapazitäten des eigenen Körpers durch sinnvollen Ausgleichssport oder spezielles Muskel- und Rückentraining gesteigert werden. Die Freizeit sollte daher zum körperlichen und psychischen Ausgleich genutzt werden. Neben sportlichen Aktivitäten wie Schwimmen können aber auch einfachere Dinge wie schnelles Gehen Linderung verschaffen. Radfahren oder Joggen sind je nach Erkrankung nicht so empfehlenswert, da sie die Gelenke noch zusätzlich belasten können. Manfred Just rät seinen Klienten zum Beispiel auch zum Schwingen auf einem Mini-Trampolin. „Trampolinschwingen ist für den Körper dreimal effektiver und gesünder als Joggen – 15 Minuten entsprechen einer Dreiviertelstunde Joggen. Zudem schont es die Gelenke.“

Eine Literaturliste sowie eine Liste mit ausgewählten Ergonomie-Experten finden Sie als Download: