Versorgungsoptionen beim zahnlosen Kiefer

Was die Oral Reconstruction Foundation für die tägliche Praxis empfiehlt

Versorgungsoptionen beim vollständig zahnlosen Kiefer – herausnehmbar oder festsitzend? Wie viele Implantate sind nötig? Welche Werkstoffe eignen sich am besten? Können für Standardversorgungen vier Implantate im Unterkiefer und sechs im Oberkiefer für eine festsitzende Versorgung sicher empfohlen werden? Dürfen es auch weniger Implantate sein?


Oral Reconstruction Foundation Empfehlungen

V. l.: Dr. Alex Schär, Basel, CEO der Oral Reconstruction Foundation (OR Foundation),Prof. Irena Sailer, Genf, Dr. Georgia Trimpou, Frankfurt, Präsident Prof. Robert Sader, Frankfurt, Prof. Katja Nelson, Freiburg. © Barfuß


Um diese Fragen drehte sich das Expertenmeeting der Oral Reconstruction Foundation (OR Foundation), das im März letzten Jahres in Prag stattfand. Auf dem DGI-Kongress in Hamburg präsentierten Präsident Prof. Dr. mult. Robert Sader, Frankfurt, Prof. Dr. Katja Nelson, Freiburg, Dr. Georgia Trimpou, Frankfurt, und Prof. Dr. Irena Sailer, Genf, die Empfehlungen der Oral Reconstruction Foundation. Basis ist stets eine umfangreiche Literaturrecherche, die analysiert wird, wie Sader erläuterte. Experten aus der Wissenschaft und aus der Praxis leiten daraus gemeinsam ihre Empfehlungen ab.

Medizinische und geriatrische Faktoren beachten

Medizinische und geriatrische Faktoren sowie Langzeitkonsequenzen lautete das Thema von Prof. Dr. Katja Nelson. Rund 30 Prozent der 64- bis 75-Jährigen weltweit sind zahnlos, deutschlandweit zirka 22 Prozent. Das höhere Alter selbst wirkt sich weder auf die Osseointegration noch die Implantatüberlebensraten aus, wie Nachuntersuchungen (1–5 Jahre) gezeigt haben. Entscheidend sei der Gesundheitszustand der älteren Patienten. Liegen systemische Erkrankungen vor? Welche Medikamente nimmt der Patient? Das gelte es bei dieser Patientengruppe gründlich zu prüfen. Bisphosphonate und Co. beeinflussten natürlich den Knochenstoffwechsel und somit die Osseointegration (siehe Kasten).

Bisphosphonate (BP) in der Praxis
  • Niedrig dosierte Einnahme von BP zur Behandlung von Osteoporose beeinträchtigt das Implantatüberleben nicht, kann jedoch eine MIONJ (Medikamenteninduzierte Osteonekrose des Kiefers) verursachen.
  • Bei niedrig dosierter Gabe von Antikörpern (z. B. Denosumab) liegen keine Informationen zum Implantatüberleben vor. Es wird von einer ähnlichen Implantatheilung ausgegangen wie bei Patienten, die eine BP-Therapie erhalten.
  • Hochdosierte Therapien mit BP und Antikörpern führen am häufigsten zu einer MIONJ. Eine Implantattherapie wird folglich nicht empfohlen.
  • Für Patienten mit einer Periimplantitis, die antiresorptive Medikamente erhalten, liegt kein Behandlungsregime vor.

Prof. Katja Nelson, Freiburg

Chirurgische Eingriffe bei Diabetes-Patienten sorgfältig prüfen

Aktuelle Studien zeigten, dass (kontrollierter) Diabetes kein Risikofaktor für die Überlebensrate der Implantate darstellt. Es liegen jedoch keine Informationen zum entsprechenden perioperativen Management (Medikation) und zum Wundverschluss vor. In der Fachliteratur gebe es nur wenig Evidenz für den Erfolg von Knochenaugmentationsverfahren und progressiven Belastungsprotokollen bei Patienten mit Diabetes. Daher sollten komplexe chirurgische Eingriffe sorgfältig geprüft werden. „Wir haben in Freiburg einen sehr ausgefeilten Anamnesebogen erarbeitet, den jeder bei uns anfordern kann.“ Vor jedem Eingriff werde die Anamnese aktualisiert.

Wir haben in Freiburg einen sehr ausgefeilten Anamnesebogen erarbeitet, den jeder bei uns anfordern kann. <span class="su-quote-cite">Prof. Katja Nelson</span>

Patientenzufriedenheit

Für Standardversorgungen können vier Implantate im Unterkiefer und sechs im Oberkiefer für eine festsitzende Versorgung sicher empfohlen werden, wie Trimpou und Sailer herausstellten. Über festsitzende Versorgungen auf drei Implantaten oder sogar auf zwei Implantaten im zahnlosen Unterkiefer werde zwar berichtet, evidenzbasierte Ergebnisse fehlten jedoch, sagte Trimpou. Deswegen sei diese Art der Versorgung nicht zu empfehlen. Ob herausnehmbar oder festsitzend versorgt wird, habe kaum Einfluss auf die Patientenzufriedenheit, berichtete sie. Als häufigste Komplikation für den herausnehmbaren Zahnersatz nannte Trimpou die Remontage und das Nachlassen der Retention.

Ästhetische Defizite

Ob im Oberkiefer festsitzend oder herausnehmbar versorgt wird, ist hinsichtlich der Langzeitüberlebensraten vergleichbar, wie Sailer zeigte. Entscheidend für ein ästhetisches Outcome sei die exakte Untersuchung. Die Unterstützung der Lippen, der Weichgewebe, der Wangen und Schleimhäute sollte genau analysiert werden. Brauche es für eine gute Gesichtsästhetik etwas mehr Volumen im Bereich der Lippen und der Weichgewebe, seien fast immer abnehmbare Versorgungen indiziert. Bei den komfortableren festsitzenden Versorgungen drohe die Gefahr ästhetischer Defizite, weil der Oberkiefer ein bestimmtes Resorptionsmuster habe.

Hinsichtlich des Kaukomforts schnitten festsitzende und abnehmbare Versorgungen von zahnlosen Patienten gleich gut ab, sagte Sailer. Mit Blick auf das Chippingrisiko geht sie davon aus, dass „monolithischen Rekonstruktionen die Zukunft gehört“.

Reviewgläubigkeit überholt?

Kritik übte sie mit Blick auf die Materialfrage an den systematischen Reviews, die wichtige Komponenten außer Acht ließen und somit für die Praxis oft unbrauchbar seien.

Wir brauchen Qualitätskriterien für Reviews. <span class="su-quote-cite">Prof. Robert Sader</span>

Ein Thema, das auch die Oral Reconstruction Foundation angehen wird. In einem der nächsten Expertenmeetings soll über Qualitätskriterien für Reviews diskutiert werden, kündigte Sader an. Denn die Zahl systematischer Reviews und Metaanalysen steige dramatisch. Einige basierten jedoch nur auf wenigen Arbeiten, die zudem so heterogen seien, dass man die Ergebnisse gar nicht gemeinsam bewerten dürfe. Er jedenfalls habe ein bisschen „die Nase voll von dieser Reviewgläubigkeit“.

Die Oral Reconstruction Foundation
  • Ziel der Oral Reconstruction Foundation ist es, durch Förderung von Forschungsprojekten und Weiterbildung Wissen zu schaffen und zu verbreiten sowie junge Talente zu fördern. Der Austausch von Fachwissen auf dem Gebiet der oralen Implantologie und verwandter Gebiete zwischen Wissenschaftler, Praktiker und der Industrie ist ein zentrales Anliegen. Dies alles dient letztendlich dem Wohle des Patienten. Die OR Foundation unterstützt wissenschaftliche Projekte, Studien und Stipendien und fördert kontinuierlich die Aus- und Weiterbildung.
  • Präsident ist seit Anfang 2018 Prof. Dr. mult. Robert Sader, Frankfurt. Seit 2006 führt die Foundation regelmäßig ein internationales Expertenmeeting durch, bei dem sich Wissenschaftler und Praktiker treffen, um gemeinsam über den aktuellen Stand in der Implantologie zu diskutieren und Empfehlungen für die Praxis zu erarbeiten.
  • Das Oral Reconstruction Global Symposium 2020 findet vom 30. April bis 2. Mai 2020 in New York City statt.