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Differenzierte Lokalanästhesie

In der zahnärztlichen Praxis sollte eine schmerzfreie Behandlung und die Garantie der Sicherheit des Patienten an erster Stelle stehen. Die Veränderung der demographischen Struktur, die daraus folgende zunehmende Anzahl chronischer Erkrankungen in der Bevölkerung und der größere Restzahnbestand älterer Patienten erfordert heutzutage eine Differenzierung bei der Verwendung von Lokalanästhetika. Das Prinzip “one fits all” gilt nicht mehr, vielmehr sollte der Zahnarzt das Lokalanästhetikum und die Injektionstechnik spezifisch auswählen, um sie den individuellen Bedürfnissen des Patienten und der jeweiligen Behandlung anzupassen.


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Prof. Dr. Dr. Monika Daubländer hat für E-WISE eine Online-Fortbildung in Form eines interaktiven Video-Seminars „Die differenzierte Lokalanästhesie“ gehalten. | © E-WISE


Im Allgemeinen ist die zahnärztliche Lokalanästhesie sehr sicher. Eine Studie aus dem Jahr 1997 (1) beziffert die Komplikationsrate der Lokalanästhesie auf 4,5 %, wobei diese bei Risikopatienten höher lag (5,7 %) als bei gesunden Patienten (3,5 %). Außerdem waren die meisten Komplikationen schwach und nicht behandlungsbedürftig, nur in 0,7 % der Fälle kam es zu schweren Komplikationen wie etwa Bronchospasmen und epileptischen Anfällen. Die Komplikationsrate kann durch eine ausführliche Anamnese, einer strikten Anpassung der Dosis an das Körpergewicht des Patienten und der Anwendung des Prinzips der differenzierten Lokalanästhesie weiter reduziert werden.

Ausführliche Anamnese

Die Anamnese steht im Mittelpunkt der individuellen Risikoeinschätzung, dies gilt sowohl für die statische Anamnese in Form des Gesundheitsfragebogens, als auch für die jeweilige Tagesform des Patienten. Die Einschätzung der Belastbarkeit des Patienten für die Lokalanästhesie hängt oft mehr von der Tagesform als von der statischen Anamnese ab. Ein Patient, der zum Beispiel Schmerzen, Fieber oder eine Schwellung hat, ist deutlich weniger belastbar. Um die Belastbarkeit festzustellen, kann man sich an der Frage: „Können Sie ein Stockwerk Treppen laufen ohne anzuhalten?” orientieren. Wenn der Patient das nicht kann, sollte er keine Lokalanästhesie erhalten.

Die allgemeine Anamnese sollte vor jedem Behandlungszyklus oder alle zwölf Monate neu erhoben werden. Die folgenden Punkte sind von besonderer Bedeutung für die Auswahl der Lokalanästhesielösung und deren Dosierung:

Besondere Patienten, das heißt Patienten, die nicht unbedingt krank sind, sich aber in einem besonderen physiologischen Zustand befinden:

  • Ältere Menschen
  • Kinder
  • Schwangere und Stillende

Risikopatienten:

  • Kardiovaskuläre Erkrankungen
  • Endokrinologische Erkrankungen
  • Erkrankungen des ZNS
  • Lungenerkrankungen

Die oben genannte Studie (1) belegt zudem, dass die tatsächliche Komplikationsrate bei Patienten mit Lebererkrankungen am höchsten ist, gefolgt von Patienten, die mehr als 2 Medikamente einnehmen, Allergikern und Patienten mit Erkrankungen des ZNS, der Lunge, und des Herz- Kreislaufsystems.

Anpassung der Dosis an das Körpergewicht des Patienten

Die Grenzmenge des Lokalanästhetikums sollte dem Körpergewicht des Patienten angepasst werden. Die Grenzmenge ist die Menge eines bestimmten Lokalanästhetikums, die einem Menschen innerhalb von 24 Stunden injiziert werden darf. Diese berechnet sich auf Grundlage der Grenzdosis, welche im Tierversuch ermittelt wird, der Konzentration und des Körpergewichts. Sie sollte bei allen Patienten, die weniger als 70 kg wiegen, individuell ermittelt werden (siehe Dosierungstabelle); ab 70 kg gilt bei der Anwendung von Articain mit Vasokonstriktorzusatz generell die absolute Maximaldosis von sieben Zylinderampullen.

Ebenfalls zu beachten ist die Maximaldosis des Vasokontriktors, wobei jedoch bei gesunden Patienten immer die Maximaldosis des Lokalanästhetikums den begrenzenden Faktor darstellt. Bei Patienten mit Herz- Kreislauferkrankungen liegt die Maximaldosis des Adrenalins allerdings um ein sechsfaches tiefer, und so bestimmt in diesem Fall der Vasokonstriktor die Maximaldosis der Anästhesielösung. Bei der Verwendung von Articain 4 % und einem 70 kg schweren Patienten mit Herz- Kreislauferkrankung ist die Maximaldosis wie folgt:

  • 12,5 ml = 7 Zylinderampullen (1:400.000)
  • 8 ml = 4,5 Zylinderampullen (1:200.000)
  • 4 ml = 2,5 Zylinderampullen (1:100.000)

Differenzierte Lokalanästhesie

Der pharmakologische Grundsatz „Keine Wirkung ohne Nebenwirkung” gilt auch für die Lokalanästhesie. Das ideale Lokalanästhetikum, welches nur den Schmerz ausschaltet und keine Risiken und Nebenwirkungen hat, gibt es leider nicht. Die Kunst ist deshalb, die sehr guten Lokalanästhetika, die uns zur Verfügung stehen, optimal zu nutzen um eine hohe Wirksamkeit bei geringer Nebenwirkung zu erreichen.

Differenzierte Lokalanästhesie bedeutet kurz gesagt eine dem Patienten und der Behandlung angepasste Schmerzausschaltung. Sie umfasst sowohl die Risikofaktoren und Erwartungen des Patienten als auch die Erfahrung des Zahnarztes und die Art, Dauer und Ausdehnung der jeweiligen Behandlung. Die Anpassung erfolgt durch die Auswahl der Anästhesielösung (Lokalanästhetikum, Vasokonstriktor, Zusatzstoffe) und der Injektionstechnik (Leitungsanästhesie, Infiltrationsanästhesie, intraligamentäre Anästhesie).

Schulungsbedarf für Zahnärzte und Studierende in Lokalanästhesie

Der Goldstandard „Infiltrationsanästhesie im Oberkiefer – Leitungsanästhesie im Unterkiefer”, der immer noch an den meisten Universitäten gelehrt wird, ist in der Praxis inzwischen kaum mehr relevant. In einer vor drei Jahren durchgeführten Befragung gaben Zahnärzte an, mit einer Häufigkeit von 73 % bevorzugt die Infiltrationsanästhesie zu wählen. In nur 25 % der Fälle konnten sie sich für die Leitungsanästhesie begeistern. Durch die Verwendung von Articain 4 % kann mittlerweile auch bei Erwachsenen bis in den Bereich des ersten Unterkiefermolaren eine ausreichende Anästhesietiefe gewährleistet werden. Dies gelingt nicht bei der Anwendung von Lidocain, welches im angloamerikanischen Raum weit verbreitet ist. Die Vermeidung einer Leitungsanästhesie minimiert das Risiko der Gefässinjektion, schliesst eine Verletzung des N. lingualis bzw. des N. alveolaris inferior aus und sorgt zudem dafür, dass die Zunge nicht von der Anästhesie betroffen ist, was zum Wohlbefinden des Patienten beiträgt und die Gefahr der Selbstverletzung vermindert.

Die intraligamentäre Anästhesie führt in Deutschland immer noch ein Nischendasein, was wahrscheinlich auch daran liegt, dass diese Technik an den Universitäten noch nicht umfangreich gelehrt wird. Sie wird wenn dann hauptsächlich als Ergänzung anderer Injektionstechniken verwendet. Dabei hat sie bewiesen, dass sie als primäre Lokalanästhesie bei kürzeren und mittellangen Eingriffen durchaus Berechtigung hat. Der Hauptvorteil der intraligamentären Anästhesie besteht vor allem in dem kleinen Wirkungsradius und der daraus resultierenden geringeren Gefahr der Selbstverletzung und Gefässinjektion. Die Verwendung eines hohen Vasokonstriktoranteiles von 1:100.000 ist bei dieser Technik nicht notwendig. Es besteht ein klarer Schulungsbedarf für Zahnärzte und Studierende, denn auch hier gibt es bestimmte Risiken. Nennenswert sind vor allem die hohe Bakteriämierate von 100 %, welche sie beispielsweise für die Anwendung bei Patienten mit Parodontitis oder Endokarditisrisiko unbrauchbar macht. Bei zu schneller Applikation besteht zudem das Risiko von Drucknekrosen.

Individuelle Entscheidung des Anästhetikums

Bei der Auswahl der Anästhesielösung muss man zwischen Lokalanästhetikum und Vasokonstriktor unterscheiden. Die zur Zeit relevanten Lokalanästhetika sind Articain, Lidocain, Mepivacain und Bupivacain. Lidocain ist die weltweit am weitesten verbreitete Substanz. Bupivacain ist die Potenteste der vier Substanzen, findet aber in der Zahnmedizin weitestgehend keine Anwendung mehr. In Deutschland wird auf Grund des guten Verhältnisses von Wirkung zu Toxizität standardmäßig Articain verwendet. Die geringe Toxizität des Articains ist auf die hohe Proteinbindung zurückzuführen. Sie verhindert, dass das Molekül die Blut-, Hirn-, beziehungsweise Plazentaschranke überwinden kann. Mepivacain hat im Verhältnis zu den anderen Substanzen kaum vasodilatatorische Eigenschaften. Es wird deshalb nur dann empfohlen, wenn Kontraindikationen für den Einsatz von Vasokonstriktoren vorliegen. Das Risiko für eine echte Intoxikation durch Lokalanästhetika ist bei Verwendung von Articain sehr gering, unter der Vorraussetzung, dass eine intravasale Injektion durch Aspiration ausgeschlossen wird und Maximaldosen eingehalten werden.

Als Vasokonstriktor ist heutzutage ausschließlich Adrenalin zu empfehlen. Adrenalin wirkt auf den Körper in Form von Tachykardie, Hypertonie, Hypotonie, Schwindel, Tremor, Unruhe oder Übelkeit. Diese systemischen Nebenwirkungen kann man in der Regel nur bei erhöhter Resorption, das heißt verstärkter Durchblutung im Injektionsgebiet, und bei intravasaler Injektion beobachten. Aspiration vermindert das Risiko einer intravasalen Injektion, schließt sie allerdings nicht ganz aus, da es in 20 % der Fälle auch auf dem Weg der Kanüle durch das Gewebe zu Gefässverletzungen kommt (partiale intravasale Injektion). Aus diesem Grund können systemische Nebenwirkungen auch bei korrekter Technik und gesunden Patienten auftreten. Als Regel hier gilt wie so oft: Die Dosis macht das Gift. Bei dem Vorliegen von absoluten Kontraindikationen, wie beispielsweise Phäochromozytom, Hyperthyreose, tachykarden Rythmusstörungen und Disulfitallergie, sollte auf den Einsatz von Adrenalin allerdings streng verzichtet werden.

Als Zahnarzt gilt es individuell zu entscheiden, denn auch Schmerz und Angst führen zu einer endogenen Adrenalinausschüttung. Diese ist im Gegensatz zur Injektion von Vasokonstriktoren unkontrolliert und kann deshalb für den Patienten sogar gefährlicher sein. Zum Schluss erwähnenswert ist das seit 2013 in Deutschland erhältliche Produkt OraVerse (Phentolaminmesilat), welches als nichtselektiver Alphablocker die Wirkung des Adrenalins aufhebt und so durch die Erweiterung der Blutgefässe einen schnelleren Abtransport des Lokalanästhetikums aus dem Gewebe ermöglicht. Es bietet somit die Chance, die für den Patienten unangenehme Wirkung des Lokalanästhetikums um bis zu 50 % zu verkürzen.

(1) Daubländer M, Müller R, Lipp MD. The incidence of complications associated with local anesthesia in dentistry. Anesth Prog. 1997 Fall;44(4):132-41. Anhang: Dosierungstabelle, Prinzip differenzierte LA

Prof. Dr. Dr. Monika Daubländer hat für E-WISE eine Online-Fortbildung in Form eines interaktiven Video-Seminars „Die differenzierte Lokalanästhesie“ gehalten.
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